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Pressestimmen zu Verlorenwasser (aus: Der Ort/Musikalisches Opfer)


„Da prallen zwei Welten aufeinander"

Uraufführung in der Liederhalle: Stuttgarts Staatsorchester präsentiert Helmut Oehrings „Verlorenwasser"

Lothar Zagrosek steht vor seinem Orchester und der Bühne, gibt den Takt an und regelt die Einsätze. Hinter den Orchestermusikern vermittelt ein Gehörlosenchor mit Armen und Händen Worte und schneidet Grimas¬sen zum Text. Die neun gehörlosen Sänge¬rinnen und Sänger sind auch selber vom Pu¬blikum zu hören. Zagrosek, Stuttgarts Gene¬ralmusikdirektor, und der Gehörlosenchor proben - im Rahmen der Sinfoniekonzerte des Staatsorchesters - gemeinsam das neue Werk des Komponisten Helmut Oehring. Die knapp 20-minütige Produktion „Verlo¬renwasser (Ein musikalisches Opfer)" wird morgen, Sonntag, in Stuttgart uraufge¬führt.
Ein Blick auf Oehrings bisherige Produk¬tionen (rund 100 Stücke) verspricht auch bei diesem dritten großen Orchesterwerk des Künstlers ein Klangereignis. Neben Ge¬bärden und Gesang soll das Publikum im Beethovensaal der Liederhalle zwischen
Werken von Bach (Fuga - Ricercata - a 6 voci aus dem „Musikalischen Opfer" BWV 1097; Instrumentierung von Anton Webern) und Schumann (Symphonie No. 2 C-Dur op. 61) mit einer Kaskade aus „Circle-Surro" und Spezialeffekten unterhalten werden. Aus Lautsprechern werden live elektroni¬sche Klangfelder in den Raum geworfen, die Töne stammen aus Menschenkehlen, von E-Gitarren oder einem Kontrabass. „Die Musik wird auf diese Weise zu einem dreidi¬mensionalen Prozess und zu einem audiovi¬suellen Amüsement", sagt Oehring.
Nicht nur der Bühnenaufbau lässt ahnen, dass der Ostberliner „anders" ist, in seiner Musik ebenso wie in seinem Schicksal. Als Kind gehörloser Eltern hat der 1961 gebore¬ne Komponist seine Muttersprache zu¬nächst nur in Gebärden gelernt und erst spä¬ter zur normalen Lautsprache gefunden. „Die Gesten sind reichhaltiger, poetischer und vielschichtiger als die laute Sprache",
beschreibt er die Vorteile der Gebärden. Die Sprache durch Gesten sei daher keineswegs eine Sprache von Behinderten, sondern viel¬mehr von Privilegierten. Konzerte wie der Auftritt in Stuttgart sollten auch zeigen „wie schön Gebärdensprache aussieht".

Vom Baufacharbeiter zum Klangkünstler

„Da prallen zwei Welten aufeinander", sagt Oehring: „Die Welt der Menschen, die mit dem Ohr leben und durch das Ohr sind, und die Welt der Leute, für die Musik abso¬lut keine Rolle spielt, weil sie nicht hören können." Das Komponistenhandwerk als solches habe er nie lernen wollen - und kön¬ne es bis heute nicht.
Oehring ist gelernter DDR-Baufacharbei¬ter, hat sich später unter anderem als Friedhofsgärtner, Küster und Nachtwächter verdingt und kam schließlich über die Rockmusik zum Notenblatt. Nein, sagt er, er gehöre nicht zu den Jungen Wilden in der Neuen Musik. Das sei ein Ruf, der ihn verfolge, sagt der zurückhaltend wirkende Komponist, der als musikalischer Autodidakt in den 90er Jahren fast kometenhaft im Markt auf¬gestiegen ist. Als „zerschunden" wird seine Musiksprache charakterisiert, sie gilt als „schroff", „trotzig", „schrill", „erbärm¬lich" und „scheppernd"; die Trostlosigkeit drückt sich zumindest bei den Instrumental¬stücken bereits in morbiden Titeln wie „Ko¬ma", „Strychnin", „Lethal Injection" aus. Konzertbeginn morgen, Sonntag, ist um 11 Uhr, am Montag, 29. Januar, um 20 Uhr. Es gibt noch Karten. Preise: 14,50 Mark bis 46,50 Mark am Sonntag, zwölf Mark bis 42 Mark am Montag. Schüler und Studenten zahlen zehn Mark. Jeweils 45 Minuten vor Konzertbeginn führt Michael Schetelich, Konzertdramaturg der Staatsoper, in Oeh¬rings Werk ein.

Martin Oversohl, Stuttgarter Nachrichten vom 27.01.01

Der Klang der inneren Hände

Von einem, der beim Komponieren an Gehörlose denkt

Musik für Gehörlose, Musik von Gehörlosen: So etwas gibt es doch gar nicht! Gibt es doch. Helmut Oehring, ein Berliner Komponist, schreibt Stücke für taube Künstler.

Irgendwann hat sich der Friedhofsgärtner einfach an die Orgel gesetzt. Heimlich, nach der Messe. Und begann zu improvisieren. Nachdem der Pfarrer und die übrigen Kirchenbesucher ihre Andacht beendet hatten und niemand mehr die Fingerübungen stören konnte.
Dabei war der heimliche Musikus nicht unglücklich: Gräber ausheben, die Wege harken und manchmal auch den Trauernden tröstend zur Seite stehen, wenn sie feuchten Auges das Unkraut zupfen – der hoch geschlossene Junge Mann mochte seine Arbeit auf dem Gottesacker im Ostteil Berlins. Auch weil dem Friedhofsgärtner die Stille dieses Ortes – die viele Menschen mit Furcht erfüllt – vertraut war, seit er denken konnte. Anders als er nämlich waren seine Eltern taub. Gehörlos. Die erste Sprache, die er mit auf den Weg bekam, war die lautlose Sprache der Hände und Arme, der stillen Lippen und viel sagenden Augenbrauen: eine visuelle Zeichenwelt, die dem Hörenden nach wie vor rätselhaft erscheint.
Heute ist Helmut Oehring kein Kind und kein Friedhofsgärtner mehr, sondern einer der angesehensten Komponisten der zeitgenössischen Musik. Der 1961 am Prenzlauer Berg in Berlin geborene Künstler hat es nach seinen merkwürdigen Etüden vor über zehn Jahren zu einer ansehnlichen Karriere gebracht. Als Autodidakt, der ohne formales Musikstudium mittlerweile etwa 100 Stücke geschrieben hat und in den renommierten Konzertsälen im In- und Ausland auftaucht, ist er zweifellos einer der interessantesten Vertreter der so genannten Neuen Musik.
Ein Etikett, mit dem Oehring im Übrigen nichts anzufangen weiß. Er wolle immer nur Musik machen, sagt er, alles andere sei ihm gleichgültig. Musik für Hörende und Gehörlose eben. Genau das: Musik auch fürs Auge. Alles klar? Nichts ist klar.
Also nochmals von vorne. Helmut Oehring sitzt im Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle, wo zahlreiche Techniker umherrennen, um die Scheinwerfer für die anstehende Uraufführung seines Stücks „Verlorenwasser“ einzustellen. Andauernd verlangt jemand etwas vom unscheinbaren, bleichen Komponisten mit dem strubbeligen schwarzen Schopf und dem schmalen, gebundenen Notenheft in der Hand. Als man ihn ein wenig in Ruhe lässt, hebt er leise zu kurzen Monologen an. Ganz ohne Hektik setzt er lange Pausen, unterstreicht er jeden Satz mit sparsamer Gestik, auch dann noch, wenn das letzte Wort längst verklungen ist.
Am Anfang seinen da die „inneren Hände“, erklärt Oehring flüsternd, „denn meine Muttersprache ist ja die Gebärdensprache. Deshalb träume ich auch in Gebärden, in körperlichen Bildern, in Bewegungen.“ Der Erinnerung an diese Träume folge dann das Aufzeichnen der Noten, die übliche Instrumentierung, das Übersetzen der Gefühle und Gedanken in Noten. Gleichzeitig aber überträgt Oehring diese Notensprache, also jede Höhe, jedes Tempo auch in die Gebärdensprache und bringt anschließend das ganze wie zuvor aufs Papier. Dem hörenden Orchestermusiker sagen die Zeichen auf dem Notenständer nicht mehr als die Spuren einer frechen Katze, die mit ihren tintegetränkten Pfoten über die Linien gesprungen ist.
Für Giuseppe Giuranna aus Palermo allerdings bedeuten diese Zeichen Musik. Und das, obwohl Giuseppe seit seiner Geburt keinerlei Hörvermögen besitzt. Vor einem Jahr ist er, der gut aussehende Schauspieler mit dem angedrückten Bart nach Berlin gezogen. Im Zentrum für Kultur und visuelle Kommunikation Gehörloser (www.deasmedia.de) hat er nun einen Job bekommen für ein Jahr erst einmal. Dann will er weitersehen. Deutschland gefalle ihm nicht so sehr, zeigt er dem Gebärdendolmetscher an, weil die Menschen hier – anders als in seiner Heimat Italien – so verstockt auf eine Raum füllende Körpersprache reagieren würden. Zu Hause hätte er dagegen auch mit Hörenden völlig unverkrampft kommunizieren können.
Ansonsten hilft Humor: einmal saß Giuseppe mit Freunden in einem Restaurant, wo sich Gäste am Nebentisch schon bald über die leisen, aber wild gestikulierenden Nachbarn wunderten. Als sie mit dem Tuscheln anfingen, stand Giuseppe vom Tisch ging zu dem für jeden ersichtlichen Telefon hob ab, legte den Hörer auf die Theke und fing wie wild mit den Händen zu rudern und kreisen an. Ein Gehörloser am Telefon – absurd, was sonst. Doch mit der kleinen Einlage zeigte er allen Anwesenden, dass ihm die Reaktion der Hörenden auf den Wecker gingen. Unmissverständlich.
Heute nun darf Giuseppe erstmals mit acht weiteren gehörlosen Künstlern sowie dem Orchester des Stuttgarter Staatstheaters in der Liederhalle auftreten. Der international besetzte Gebärdenchor wird unter der Leitung des Dirigenten Lothar Zagrosek Oehrings Stück „Verlorenwasser“ mit künstlerisch stilisierten gebärden begleiten, auch mit Stimmen. Mit Pantomime hat das nämlich nichts zu tun.
Denn gehörlos sein ist nicht gleichbedeutend mit stumm sein: Der Unterschied ist lediglich, dass Gehörlose ihre eigne Stimme nicht hören und daher auch nicht kontrollieren können. Und doch hat man bei einem Probelaut einige Tage vor der Uraufführung ähnlich wie die verblüfften Musiker des Staatsorchesters des Gefühl, einem außergewöhnlichen Hörerlebnisses beizuwohnen: In dem Augenblick, als das Crescendo der Instrumente plötzlich verstummt und die lang gezogenen Töne umrahmt von undeutbaren Gebärden des Chors einsetzen, will man verstehen und kann es nicht. Oder vielleicht doch?
Helmut Oehring jedenfalls glaubt nicht, dass Kunst verstehbar sein muss. Im Zweifelsfall sei er ohnehin für die Stille. „Nichts hören ist gar nicht schlimm – bei dem Dreck, den wir jeden Tag zu hören bekommen.“ Wie gesagt: Der Mann was einmal Friedhofsgärtner.

Tomo Paviovic, Stuttgarter Zeitung Aktuell vom 28.01.01

 

Die Kraft der Kontinuität

Ingo Metzmacher im Münchner Musica-viva-Konzert mit Werken von Hartmann und Oehring

Vielleicht hat man sich allzu sehr daran gewöhnt, den Münchner Komponisten Karl Amadeus Hartmann (1905-1963) als Gutmenschen zu sehen, als Förderer komponierenden Jugend, als inneren Emigranten der Nazizeit, als humanistischen Mahner in inhumanen Zeiten. So wurde Hartmann allzu bequem ins Moralische überhoben, und die Nachwelt musste sich so gut wie nie ernsthaft mit seinen kompositorischen Qualitäten auseinandersetzen. Denn, diese These sei gewagt, wenn Hartmann nicht gleich nach dem Zweiten Weltkrieg die Münchner „musica viva“ gegründet hätte, jene nach wie vor gegen die Verödung dieser Stadt in Sachen neuer Musik an-konzertierende Veranstaltungsreihe, dann wäre Hartmann schon früh dem Verdikt der Avantgardisten zum Opfer gefallen. Denn trotz seiner großen Sympathien beispielsweise für Luigi Nono, trotz eines kurzen und späten Studiums bei Anton Webern – ein Revolutionär war Hartmann nie. Aber was zählt die Revolution schon in der Musik?
Jetzt besinnt sich zum 100. Geburtstag ihres Gründers die „musica viva“ explizit auf den Komponisten, stellt dessen Qualitäten heraus: Ingo Metzmacher, der schon vor Jahren sämtliche Hartmann-Sinfonien auf CD herausgebracht hat, spielt mit den Sinfonikern des Bayerischen Rundfunk die achte und letzte Sinfonie: einen Zweiteiler, der auf die uralte Folge von langsamem Vorspiel und furiosem Nachtanz zurückgreift. Verschreckend ist hier nichts. Hartmann beherrscht die versöhnende klage genau so wie jene Vitalität, die sich der Verzweiflung, dem Dunklen, dem Bohrenden stets zu entwinden weiß, ohne es allerdings zu verleugnen. Die Tradition wird hier mit einem staunenswerten Bewusstsein fortgeschrieben. Denn während viele der nach dem Weltkrieg jungen Komponisten die Nazizeit als furchtbare Zensur begriffen, nach der sie nicht wie bisher weiterkomponieren konnten, setzt Hartmann geradezu unbeeindruckt auf Kontinuität. Musik als kommunikativer Akt, als unmittelbar verstehbare Mitteilung persönlicher Klangwelten: das ist Hartmanns Ansatz, der in diesen Zeiten des Hinwegdämmerns einer hyperelitären Avantgarde umso interessanter ist.

Stupendes Handwerk

Denn Hartmann erkauft sich die Verständlichkeit nicht wie viele seiner heute um die Publikumsgunst buhlenden Komponistenkollegen durch banale Schlichtheit oder Scherzartikelseligkeit. Hartmann setzt auf stupendes Handwerk, auf brillante Logik, auf bezwingende Klarheit. In dieser Anfang der 60er Jahre entstandenen Achten gibt es keinen Moment, vor dem man rätselnd verzweifeln müsste. Auf der anderen Seite ist dieses Stück eine recht München-typische Musik. Sie ist vital, fordert den vollen, dunklen Klang, und entfacht eine Spiellust, die ohne Zweifel Hartmanns Komponierlust entspricht – was Sinfoniker und Metzmann zu einer gegenseitig sich aufschaukelnden Interpretation veranlasste.
Vorgeschaltet wurden der Sinfonie Hans Werner Henzes Adaption von Hartmanns berühmter Klaviersonate „27. April 1945“, einem Reflex auf die Todesmärsche von KZ-Insassen. Die Paraphrase vergrößert aber die Distanz zwischen dem grausigen Anlass und dem Kunstwerk, die im Original noch am ehesten im zentralen langsamen Trauermarsch ausgeglichen scheint.
Als Uraufführung bot Helmut Oehring , Jahrgang 1961, noch „Verlorenwasser“, eine puccineske Paradiesfantasie zu Verschwinden und Wiederkehr, zu Hör- und Unhörbarkeit, zu Kontinuität übers Verschweigen hin. Oehrings Eltern sind gehörlos, und so setzt er die Gebärdensprache (die er seine Muttersprache nennt) gern in seinen Stücken ein – auch hier. Doch zusammen mit den von einer arg unterforderten Salome Kammer vorgetragen, schlichten Gesangsweisen, einer Tiefsinn eher behaupteten als realisierten Klangsprache wirkte der Einsatz des Gebärdenchors nur als schwache Betroffenheitsgeste. Oerings Methode ist hier endgültig zum Speelen verkommen, aber ein bisschen mehr handwerkliche Souveränität (Hartmann!) könnte ihm unschwer über diese Untiefe hinweghelfen.

Reinhold J. Brembeck, Süddeutsche Zeitung vom 4. Oktober 2005

 

Dissonanzen zwischen Hören und Sehen

Uraufführung von Helmut Oehrings „Verlorenwasser" mit dem Staatsorchester unter Leitung Lothar Zagroseks

Stuttgart - „Es ist so, dass ich vom Komponieren überhaupt keine Ahnung habe." Das sagt der so einfach, offenbar ohne jeden Anflug von Ironie und Koketterie - und dann wuchtet er einen gut halbstündigen Orchesterelefanten aufs Podium des Beethovensaals. In Riesenbesetzung mit reichlich Schlagwerk so- wie Soloparts für E-Gitarre (Jörg Wilkendorf), Kontrabass (Peter Kowald) und Sopran (Salome Kammer) klingt „Verlorenwasser" von Helmut Oehring, uraufgeführt vom Staatsorchester unter Leitung Lothar Zagroseks, zunächst einmal nach einem nicht: nach „keiner Ahnung", Wer eine derart diffizile Partitur allein schon instrumentiert, wer zudem die Live-Elektronik nach präzisen Vorgaben von Torsten Ottersberg realisieren lässt, wer Anklänge an Big Bands zu Big Bangs radikalisiert und zudem von Edgard Varese bis George Lopez an neueren und neuesten Orchestersatz gemahnt, der hat - was? Mehr als eins Ahnung. Also doch Koketterie? Tatsache ist, dass Oehring, 1961 in Berlin geboren und in der DDR aufgewachsen, bis 1980 als Baufacharbeiter und in anderen Jobs malochte, danach sich autodidaktisch der Musik widmete und erst 1990 ein „ordentliches" Kompositionsstudium aufnahm. Doch die selbstgewählte Rede vom „ahnungslosen" Komponisten meint Tieferes als eine Autodidakten-Vita. Oehring ist der Sohn gehörloser Eltern, seine Muttersprache ist die Gebärdensprache der Taubstummen, und sie prägt sein Oeuvre bis hin zu „Verlorenwasser", das deshalb, zusätzlich zum Klangapparat, noch einen Gebärdenchor einsetzt (realisiert vom Berliner Zentrum für Kultur und visuelle Kommunikation Gehörloser unter Leitung von Christina Schönfeld). In Fingersprache - für „Normalhörer" nicht kommunizierbar, sondern nur als abstrakt-gestische Ästhetik wahrnehmbar - stellt der Gebärdenchor Vokabeln der Taubstummensprache dar: „Verlorenwasser" (gemeint ist ein versickernder Bach), „Ruhedorfmenschen" oder „Schneenassre-
gen" - in ihrer synästhetischen Diktion wirken die „wörtlich" übersetzten Gebärdenworte wie subjektivistische Gedankenlyrik. Und doch sind sie Formulierungen einer Sprache des Körpers, einer „Sprache im Raum", die Oehring mit statisch kreisendem, bisweilen in Motorik-Lärm ausbrechendem Orchesterklang nicht etwa nachbildet, sonder konterkariert. Keine Brücke schlägt das Werk, das kein Gesamtkunstwerk sein will. Fragmentarisch bleibt die Wahrnehmung, kein multimedialer Trost vereint Hörende und Sehend-Verstehende. Diese „Dissonanz", die Oehrings Werk nicht auflösen kann und will, gefährdet planmäßig jede ästhetische Stimmigkeit. Wer nur der Tonspur folgen kann, erlebt ein durchaus packendes Orchesterjogging samt live elektronischem Hauchen und Schreien - vielleicht die nach außen gestülpte, imaginäre „Klangwelt" eines Gehörlosen. Und doch hört man nur die halbe Wahrheit. Folglich gerät Zagroseks imponierende Uraufführung mit dem engagiert spielenden Staatsorchester und der
verwegen ihre Intervallsprünge meisternden Sopranistin Salome Kammer zur Demonstration, wie Hören und Sehen wechselseitig schon vergangen sind, bevor noch ein Ton erklang und eine Gebärde zu sehen war. Illusionslos öffnet Oehring den schwarzen, leeren Raum zwischen den Sprach-Welten, und nur in solcher Illusionslosigkeit blitzt ein Plädoyer für die Verständigung auf. „Verlorenwasser" ist der rare Fall eines zum Scheitern verurteilten und doch hoch spannenden Experiments. Mit einer dezidiert romantischen Interpretation des Ricercare aus Bachs „Musikalischem Opfer" in Weberns Bearbeitung begann das denkwürdige Konzert, mit Schumanns zweiter Symphonie klang es aus. Schroff akzentuiert rückte Zagrosek den Kopfsatz in Beethoven-Nähe, großes Format erreichte er im Finale: Wer hören kann, darf (mit-) fühlen -nach Oehring hinterlässt jede Musik einen bitteren Beigeschmack.

Martin Mezger, Stuttgarter Echo vom 31.01.01

 

Unterwegs zu einer Raumsprache

Das Staatsorchester mit einer Oehring-Uraufführung, Webern und Schumann im Beethovensaal

Am Anfang war das Wort: Verlorenwasser – das sich unmittelbar einprägt, im Kopf umherwandert und zur Chiffre, zum Zeichen zum Bild wird, ohne dass sofort klar sein muss, was damit gemeint ist.
Der Ostberliner Komponist Helmut Oehring, Jahrgang 1961, ist auch mit diesem neuen Orchesterwerk aus dem Zyklus „Der Ort/Musikalisches Opfer“, das im Rahmen des dritten Sinfoniekonzertes des Staatsorchesters Stuttgart unter der Leitung von Lothar Zagrosek im Beethovensaal uraufgeführt wurde, auf der Suche nach einer Grammatik für seine „Muttersprache“. Es ist die Sprache seiner gehörlosen Eltern, und für Oehring ist es die Suche nach immer neuen Möglichkeiten, diese poetische Sprache einer Minderheit zu übersetzen in die Grammatik der allgemein verständlichen Notenschrift: „Ich bin der Ansicht, dass ich keine Kunst mache, sondern in Wirklichkeit dokumentiere. Was natürlich nicht so ist“, hatte Oehring 1997, absichtlich widerspruchsvoll, in einem Interview gesagt.
Dieses Paradoxon schlug sich dann auch schon früher – etwa in dem Werkzyklus „Irrenoffensive“ von 1993-1995 oder in der Tanzoper „Das D´Amato-System“ von 1995 – in der Aufführungspraxis nieder. Im Beethovensaal nun stand auf der Chorempore ein zehnköpfiges, von Christina Schönfeld einstudiertes Ensemble von Mitgliedern des Zentrums für Kultur und visuelle Kommunikation Gehörloser Berlin/Brandenburg und sprach – in oft parallel geführten Gebärden, die zum einen das musikalische Geschehen im Orchester übersetzen für die, die es nicht hören können.
Oehrings Musik, von Gisela Nauck generell als „zerschrunden, schroff und trostlos“ charakterisiert, übernahm zum anderen die Funktion, diese äußerst komplexe Gebärdensprache („Allein für das Wort „Sehen“ gibt es zweihundert einzelne Gebärden“, so Oehring) transparent zu machen für die, die keinen Zugang zu ihr haben, die ausschließlich hören müssen. Dieses Oszillieren zwischen Hören und Nichthören, Stille und Lärm gab dem Werk Struktur und Kraft.
In der leisen, langsamen Einleitung etwa dadurch, dass über den lang gehaltenen Liegetönen der Streicher und vorsichtig aufblitzenden Akzenten der gestopften Tuben die Kastagnetten ein ostinates rhythmisches Motiv vorgaben, das überlagert wurde von live eingespielten Atemgeräuschen – bis dieser „Innenraum“ beinahe aufgesprengt wurde von hart einsetzenden Klangmassen des Orchesters, die noch verschärft wurden von Jörg Wilkendorf an der E-Gitarre und Peter Kowald am Kontrabass.
Salome Kammer als Sprech- und Gesangssolistin war die Klammer zwischen innen und außen: Oehring versteht den heterogenen, aus (???) substantiven bestehenden text, der ihrem Part zu Grunde liegt, als Übersetzung der vom „Chor“ gezeigten Gesten und Bewegungen. Das Publikum reagierte ohne Überschwang freundlich, indem es den anwesenden 39-jähigen Komponisten und die Solisten mehrmals auf die Bühne zurückrief.
„Denn alles findet bei Bach statt“, hatte Anton Webern seine Bewunderung für bachs Kunst der Komposition einmal zusammengefasst. Seine für kleines Orchester gesetzte Fassung des zweiten Ricercare aus dem „Musikalischen Opfer“ von 1934 seziert die Vorlage wie unter der Lupe und stellt durch die Aufsplittung der einzelnen Fugenstimmen besonders in den lyrischen Passagen der Holzbläser die „Schönheit der Technik“ (Johann Nepomuk David) heraus.
Lothar Zagrosek nahm den Beginn mit dem Hornmotiv betont langsam, um nach und nach bis zum triumphalen Trompeten am Schluss, ein Drama aufzubauen, das nach der Pause weiterging mit Robert Schumann zweiter Sinfonie in C-Dur von 1845.
„Mir hat sie manche Mühe gemacht, manch unruhige Nacht hab ich darüber gebrütet“, schrieb Robert Schumann in ihrem Erscheinungsjahr an seinen Verleger. Zagrosek und das Staatsorchester Stuttgart betonten wunderbar lebhaft und präzise die motorische, fast manische Unruhe und Nervosität, die das gesamte Werk durchzieht. Die Zuhörer im nicht ganz ausverkauften Saal waren davon begeistert.

Stefan Turowski, Stuttgarter Zeitung vom 01.02.01