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Pressestimmen zu Das Blaumeer (aus: Einkehrtag)


Rätselraten

Die Münchner Musica Viva mit Oehring, Skempton und Ives

Rätselhaft waren alle drei Kompositionen des letzten Münchner Musica- Viva-Konzerts in dieser Saison. Und das gab einem zumindest die Gelegenheit, über den Rätselcharakter als ästhetisches Kriterium von Kunst nachzudenken: mit dem Ergebnis, dass das Unfassliche wohl notwendiges, keineswegs aber hinlängliches Indiz für Qualität ist.
Bei Howard Skemptons Konzert für Drehleier, Schlagzeug und Orchester (1994) wunderte man sich eigentlich nur. Von dem schrulligen Engländer kennen wir kurze epigrammatische Stücke für Klavier oder auch für sein Instrument, das Akkordion, die durch geradezu provokante Simplizität (mit Widerhaken) zu bestechen wissen. Gut, die Drehleier ist ein Armeninstrument, Bettler vor allem im 18. Jahrhundert griffen sich an ihm die Finger wund, um ein paar Groschen zu erlangen. Muss aber deshalb an heutiges Stück für dieses Instrument mit solcher Armut haushalten? Eine binäre, weil sich im Wesentlichen auf zwei Akkorde beschränkende Melodie von sehnsüchtiger Provenienz wurde durch musikalische Landschaften geführt. Indische Ragaanklänge waren herauszuhören, ein bisschen Jazz, eine Prise Psychedelisches, eine Portion Unisono auf Bordunbasis mischten sich unter. Bettelarm. Aber zur Arte povera, die nachdrücklich von unten an den Barrikaden rüttelt, reichte es denn doch nicht. Das Stück verspielte sich.
Die Uraufführung von Helmut Oehrings "Das Blaumeer" wartete schon mit mehr auf. Als Sohn gehörloser Eltern 1961 in Ost-Berlin geboren hat er als komponierender Quereinsteiger in fast allen seinen Arbeiten das Trauma seiner Kindheit verarbeitet: schonungslos gegen sich und die anderen, nackt, mit blutenden Händen. Das saß. Und auch hier im „Blaumeer" griff er Kindheitserinnerungen auf: verzerrtes, unter der Bettdecke ersticktes Hören, der unkoordinierte Klang der mütterlichen Stimme. Schuberts Lied „Der Wanderer" wurde in seiner Heimatlosigkeit zum am Schluss ton-genau zitierten Leitmotiv des halbstündigen Orchesterwerks. Auch hier war es so, als habe die Musik ikr Zuhause, ihre Pro-portionen verloren. Klänge wirkten wie ertränkt, unwirklich wie Schatten, die gedämpfte, elektronisch modifizierte Trompete ahmte skurril Sprachlaute nach, dann wieder dröhnten Schläge martialisch dazwischen, als gebe es keine Distanz. Oehring ist hier klanglich findig wie kaum ein anderer Komponist. In schrundiger Ungeschütztheit, schmerzlich ausgeliefert stand das Werk da, das den in Deutschland vermissten Kindern gewidmet ist.
Falsche und echte Unendlichkeit
Die Vierte Sinfonie des Amerikaners Charles Ives (1874 - 1954) ist schön 90 Jahre alt und immer noch beißen sich die Interpreten daran die Zähne aus. Vermutlich wurde sie überhaupt noch nie adäquat gehört, vielleicht ist sogar der Wunsch danach illusorisch. Chor und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Martyn Brabbins näherten sich behutsam, mit bedächtigen Tempi, um diesen riesenhaften Komplex aufzuschließen: ein beachtlicher Mosaikstein der Deutung dieses Kolosses, der sich, wenn überhaupt, wohl nur in der Gesamtheit aller Aufführungsversuche erschließt. Hier finden sich ungeheure Zitattürmungen, Raumklänge, Choral-Erhabenes und Banales, eine Schulmeisterfuge über ein eigentlich fugenuntaugliches Thema, leere Verpuffungszonen, Klänge, die sich wie Kontinentalschollen schichten, Tempo- und Metrenüberlagerungen (als Kodirigent fungierte deshalb Maxim Heller), falsche und echte Unendlichkeit. Nichts scheint für sich selbst Sinn zu machen. Im Grunde ist diese Sinfonie der Versuch, Klang in all seinen Existenzformen zu gestalten und dessen unterschiedliche spirituelle Basis abzuklopfen. Das Werk ist ein gigantisches Hybridgewächs, ein Monolith, der von weit her auf die Erde fiel und es widerlegt die häufige Behauptung, dass Musik ästhetisch hinter anderen Kunstgattungen hinterherhinkt. Versammelt findet sich prophetisch, was bis heute in der Kunst gedacht wurde - und auch manches, was bis heute noch nicht eingelöst wurde. Hier nun endlich hatte das Publikum das Rätsel, das stets Merkmal großer Kunst ist.

Reinhard Schulz, Süddeutsche Zeitung vom 15. Juli 2003

 

Schillernde Töne, raunendes Meer

Packende Abenteuer bei Musica viva: Stücke von Oehring, Skempton, Ives

Aufregend und beruhigend zugleich: Trotz aller Festspiel-Events und Star-Schauläufe haben Konzerte wie dieses immer noch ein volles Haus. Denn im Glücksfall kann man bei der Münchner Avantgarde-Reihe Musica viva mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks wirklich verblüffende Musik-Erlebnisse haben. Wie jetzt zum Saison-Ende mit Dirigent Martyn Brabbins und schillernden Pointen - unter anderem in einer Uraufführung von Helmut Oehring und einem Neuzeit-Klassiker von Charles Ives.
Ein Werk wie die von 1910 bis 1966 komponierte „Vierte Symphonie" von Ives live geboten zu kriegen - dafür würden Fans selten, gespielter Musik ohnehin fast jedes andere Rendezvous absagen. Was einem da an systematisch verquer kombinierten Orchester-Klangmassen um die Ohren fliegt, raubt mit elementarer Gewalt den Atem und amüsiert auch noch. Hymnengeschmetter und atonales Rumoren, Glockengeläut, Chor- und Bläser-Pathos, süffigen Beinahe-Kitsch und aufbrausende Wildheit setzte der lange Zeit verkannte, 1954 gestorbene
Amerikaner Ives so raffiniert in Schichten gegeneinander, dass manchmal dabei die Assoziation unfreiwillig miteinander konkurrierender Freiluft-Konzerte entsteht packend, das hier - mit Zweitorchester hinter den Zuhörer-Reihen - zu erleben.
„Das Bläumeer": So hieß das uraufgeführte Auftragswerk von Helmut Oehring - eines der wohl bisher spannendsten Stücke des deutschen Komponisten. Eine gestopfte, oft jazzig flüsternde Trompete, eine subtil raunende, flackernde E-Gitarre, ein riesiges Orchester, das zum Geräuschmeer wird, über dem plötzlich krasser Schlagzeug-Donner ausbrechen kann - und aus dem sich all-mählich immer mehr eine feine männliche Sopranstimme (Arno Raunig) herauswindet, die am Ende Schuberts "Wanderer" zitiert: Ein faszinierendes Kaleidoskop aus Erinnerungen und Assoziationen -hochkomplex und sinnlich.
Dazu noch eine deutsche Erstaufführung: Howard Skemptons Kabinettstück für ein schnarrend-näselndes, heute exotisches Uralt-Instrument, das Konzert für Drehleier, Schlagzeug und Orchester von 1995. Mitreißend verunsichernd und unverkrampft konventionsfern zeigte sich in diesem Konzert die Neue Musik - genau richtig.

Roland Spiegel, Abendzeitung München vom 14. Juli 2003