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Das Blaumeer (aus: Einkehrtag)


Die Komposition endet mit Franz Schuberts Lied Der Wanderer. Helmut Oehring zitiert es teilweise wörtlich.Auf Schuberts Tonhöhen artikuliert die Singstimme den gesamten Text.Verändert ist allerdings der Rhythmus.Dadurch ergibt sich ein anderer »swing« der Melodie. Sie scheint gelegentlich zu stocken oder zu stolpern, als erinnere sich der Komponist gerade an das Stück. Das Lied gewinnt den Charakter einer Reminiszenz an etwas Vergangenes, das man zwar sehr genau kennt, das aber von anderen Erfahrungen und Erlebnissen vielfältig überlagert wird.Auch die Orchesterbegleitung trägt zu diesem Eindruck bei. Sie tönt leise und verhalten. Sie besteht aus lang gehaltenen Klängen, aus denen sich melodische Motive und gelegentlich flattrige Spielfiguren lösen. || Dieses Ende deutet unverhohlen auf das Thema des etwa dreißigminütigen Stücks. Es geht um Erinnerung und Sehnsucht. Mit dem Schubert-Zitat wird das gleich auf mehreren Ebenen angerissen. Der Text des Liedes artikuliert die Sehnsucht nach einem »hoffnungsgrünen Land«, die mit dem melodischen Gestus von Schuberts Komposition assoziiert ist. Beides verweist auf Romantik in Musik, Literatur und Kunst, als Erinnerung an eine vergangene Zeit. Zugleich trägt diese Erinnerung ein Stück Gegenwart, denn die vielfachen Verflachungen des Romantischen in Schlager und Pop, aber auch in der expressiv rückwärtsgewandten Neuen Musik, rekurrieren, so verbrämt und klischeehaft sie auch sind, auf ähnliche Sehnsüchte und Wünsche. || Schließlich spielen ganz persönliche Reminiszenzen des Komponisten eine wichtige Rolle. Das Blaumeer ist ein mit Jugend-Erinnerungen von Helmut Oehring gespicktes Werk, für den Musik kein abstraktes Spiel von Formen und Gestalten ist, ohne Draht zur wirklichen Welt. Oehring betrachtet das Klingende als Medium zum Geschichten erzählen. Seine Stücke sind Klang-Geschichten, die auf Erfahrungen aus der Realität beruhen. Er versucht, beim Komponieren Verbindungen zu Außermusikalischem zu schaffen, entweder durch die Referenz auf Ereignisse in Gesellschaft und Politik oder durch Persönliches, wie im Fall von Das Blaumeer. || Eine solche Verbindung stellt sich zum Beispiel durch einige kurze Passagen der Singstimme her, die inmitten des Stücks erklingen. Der Sopran artikuliert eine Art Geheimsprache, wie Oehring sie in seiner Kindheit benutzte: der Text wird rückwärts gesprochen und dadurch verschlüsselt. Eine andere Verbindung zur persönlichen Erfahrungswelt ist der Einsatz der E-Gitarre, die Helmut Oehring seit seinem 14. Lebensjahr spielt. Sein ganzes Klangdenken ist davon geprägt. In Das Blaumeer erscheint die E-Gitarre als Soloinstrument in einer zentralen Rolle. Sie bildet das Gravitationszentrum für die beiden anderen Solisten, Sopran und Trompete, und sie beeinflusst auch den Klang des Orchesters. || Oehring entfaltet ein sensibles Wechselspiel. Die E-Gitarre reflektiert gewissermaßen das, was die anderen beiden Solisten entäußern oder anders gesehen: die Solisten führen aus,was in der E-Gitarre angedeutet wird. Das Instrument intoniert einen bestimmten Gestus, der dem Charakter des jeweiligen Abschnitts entspricht. Zugleich fügt es geräuschhafte Elemente hinzu. Verzerrer und andere elektronische Geräte dienen der Klangmanipulation, die den Sound der E-Gitarre in unterschiedlichste Geräuschwelten führt. Eine davon ist ein von Oehring «radiophonisch« oder »radioelektrisch« genannter Klang. Er tönt wie die Störungen eines kleinen Transistorradios bei schlechtem Empfang, an die sich der Komponist aus seiner Kindheit vom Radiohören unter der Bettdecke erinnert. Diese Geräusche fließen dezent in den Gesamtklang ein. Sie bilden eine Art Schleier, der das Instrumentale verfärbt und verfremdet. || Eine weitere Assoziation an die Kindheit hat Helmut Oehring in den Trompetenpart integriert. Als Sohn gehörloser Eltern ist seine Muttersprache die Gebärdensprache. Darüber hinaus versuchten die Eltern, das Kind auch mit den Klängen der Stimme vertraut zu machen und artikulierten, was ihnen möglich war. Oehring erinnert sich dabei an die sehr tiefe Stimme seiner Mutter. Sie wird im Trompetenpart durch einen sogenannten »Pitchbender« musikalisiert. Das ist ein Gerät, das mit einem Lichtsensor den Abstand und Winkel zum Instrument misst und aus diesen Daten einen Ton ermittelt. In Das Blaumeer wird das Gerät so eingestellt, das in den meisten Fällen die synthetisierte Tonhöhe deutlich, manchmal bis zu zwei Oktaven unter dem geblasenen Ton liegt. So entstehen tiefe brummelige Klänge, die Oehring mit dem Stimmklang seiner Mutter verbindet. Zugleich bildet der Vorgang Charakteristika der Gebärdensprache ab, denn die Aktivitäten des Pitchbenders werden durch genau kalkulierte Bewegungen initiiert. Die Gestenhaftigkeit dieser Spiel-Aktionen, die Erzeugung von Klang durch Bewegung ähnelt sehr der Funktion der Gebärdensprache. || All diese inhaltlichen Bezüge sind von ihrem Ursprung abstrahiert. Sie erscheinen durch musikalische Techniken in je bestimmte Klanggestalten transponiert. Denn Helmut Oehring schreibt mitnichten Programmmusik. Die sehr plakativen inhaltlichen Elemente, die der Komponist benennt und aus denen er die Komposition generiert, sind nicht einfach ablesbar. Sie erscheinen als Gesten von Musik. Dadurch lösen sie sich ein wenig von ihrer Bedeutung ab und entfalten sich als selbstständige musikalische Gestalten. Selbst der direkteste Bezug zum Thema Sehnsucht und Erinnerung, das Schubert-Lied, wird verfremdet. Es erscheint als Sample in einem zeitgenössischen Klangraum, der neben den Assoziationen an Aspekte der Romantik auch vieles anderes trägt. Die Verarbeitung des Inhaltlichen erzeugt bestimmte Stimmungen. Sie versinnlichen Sehnsucht und Erinnerung, aber nicht mit klischeehaften akustischen Bildern, sondern auf eine komplexe, eher abstrakte und zeitgemäße Weise. || Viel hängt dabei am sehr körperlichen und dank elektronischer Erweiterungen breitgefächerten Klang der E-Gitarre. Davon ist auch das Orchester betroffen. Alle Instrumente werden verstärkt und über ein zentrales Pult einer Surround-Anlage zugespielt, was in der Partitur präzise vorgeschrieben ist. Das Publikum wird rundum beschallt. Es sitzt sozusagen inmitten der Instrumente und gerät dadurch intensiv, quasi unmittelbar ins akustische Geschehen. Das Orchester bildet nicht mehr einen Gegenpart zum Hörer, sondern es umspielt ihn mehrperspektivisch. Außerdem verändert sich der Klang durch die elektrische Verstärkung. Er erscheint teilweise abgelöst von den Instrumenten und gewinnt einen zusätzlichen Körper, eine Aura des Technologischen. Er rückt ein kleines Stück in Richtung nicht-instrumentale Sounds und nähert sich den vorproduzierten Zuspielungen an. || Diese bestehen aus einer Reihe von Geräuschen, Meeresrauschen, Vogelzwitschern,Wind und Stimmen, die Helmut Oehring aufnahm und für einige Zuspielungen, die den Orchesterklang atmosphärisch aufladen, bearbeitete. Wegen der elektronischen Verstärkung und der Raumaufteilung des Orchesters wirken diese Elemente einer musique concrète nicht wie Fremdkörper. Beides, Instrumentalklang und Geräusch, verschmilzt miteinander. Und die Naturassoziationen tragen zu derjenigen Stimmung bei, die Helmut Oehring mit dem Stück erzeugen möchte: das Klima eines schwülen Sommertags. Auch die Aufführungssituation, die dieübliche Konzertatmosphäre bricht, folgt dieser Idee. Der Saal soll während des ganzen Stücks in ein mildes, tageslichtähnliches blaues Licht getaucht werden. || Nicht direkt aufs Musikalische, aber auf das Thema der Komposition nimmt die Widmung in der Partitur bezug. Oehring listet dort die in Deutschland vermissten Kinder auf, mit Namen, Alter, Wohnort und Datum des Verschwindens. Er verbindet ein gesellschaftspolitisches Problem mit dem persönlichen Anliegen, seine eigenen Erinnerungen zu musikalisieren. Das ist ein immer wiederkehrender Aspekt von Helmut Oehrings Komponieren. Er möchte die musikalische Arbeit irgendwie mit der Realität verflechten, denn in Musik nur um der Musik willen sieht er keinen Sinn. Mit der Widmung an die vermissten Kinder gewinnt Das Blaumeer eine inhaltliche Dimension, die die sehr persönliche Verarbeitung des Themas Sehnsucht und Erinnerung in einen überindividuellen Zusammenhang stellt.

Anstelle einer Widmung werden im folgenden zwei von derzeit in Deutschland weit über tausend
dauervermissten Kindern [Stand 17. 6. 2003] aufgeführt.

Der Autor bittet darum, zu jeder BLAUMEER-Aufführung je ein vermisstes Kind aus Berlin und aus
der Stadt, in der die Aufführung stattfindet – mit allen Angaben, Foto sowie Telefonnummern der
Hotline –, im Programmheft abzubilden.

Till Kratzsch
aus Berlin
vermisst seit dem 18. Juli 1995
Alter: damals 13 Jahre
Größe: 1,60 m
Augen: blau
Haare: dunkelblond/kraus
besondere Merkmale: dichte, zusammengewachsene
Augenbrauen; senkrechte Narbe auf der Stirn

Patrick Jesch
aus Veitshöchheim/Würzburg
vermisst seit dem 31.Oktober 1998
Alter: damals 2 Jahre
Größe: ca. 91 cm
Gewicht: ca. 16 kg
Haare: dunkelblond, mittellang, gelockt
Augen: blau
Gesicht: ovale, hohe Stirn, Stupsnase
Gestalt: kräftig [nicht dick]
Bekleidung: weißgrauer Jogginganzug, dunkelblauer
gemusterter Anorak, Jeanskappe, hohe
schwarze Schnürturnschuhe

Wenn Sie Till Kratzsch oder Patrick Jesch gesehen oder etwas über ihn gehört haben, wenden Sie
sich bitte an die Kripo Würzburg, Telefon: 0931 / 45 74 10, jede andere Polizeidienststelle oder an uns:

Elterninitiative vermisste Kinder
http://www.vermisste-kinder.de
Hotline: 0700 – VERMISST [0700 – 83 7647 78]
Pommernstr. 9
24629 Kisdorf
Telefon: 04193 / 89 09 98
Fax: 04193 / 96 88 23
E-mail: info@vermisste-kinder.de

Mit freundlicher Hilfe und Genehmigung der Elterninitiative vermisste Kinder
Spendenkonto: Deutsche Bank | Konto: 23 48 480 | Blz.: 200 700 24