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Verlorenwasser (aus: Der Ort/Musikalisches Opfer)

MAGISCHER ORT
gebunden an ZEIT
Vorrat von WÜNSCHEN
kein SUCHEN

Verlorenwasser ist der Name eines Ortes. Er liegt an einem gleichnamigen Bach mitten in der märkischen Heide und bildete zwischen 1949 und 1989 den geografischen Mittelpunkt der DDR.Natürlich war es Zufall, das Verlorenwasser in dieser speziellen Verbindung zur DDR stand, nur weil Geografen das so gemessen hatten - das Dorf hatte mit seinen Bewohnern schließlich schon längst vorher existiert, und auch nach der sogenannten Wende leben dort weiterhin Menschen und fließt dort weiterhin Wasser den Bach entlang…

12˚31 min östlicher Länge und 52˚12 min nördlicher Breite Verlorenwasserbach … Ja dieser Name stammt daher, dass er dort auftaucht und dann ein Weilchen an der Oberfläche bleibt, dann wieder in der Erde verschwindet und wieder auftaucht und daher hat er seinen Namen Verlorenwasserbach.
(aus Verlorenwasser)

Ein Zufall - oder besser: eine Reihe von Zufällen waren es auch, die Helmut Oehring zum Komponisten machten.Er wuchs im gesellschafts- und kulturpolitischen Mittelpunkt der DDR,im Ostteil Berlins auf - als Kind gehörloser Eltern, mit der Gebärdensprache als Muttersprache. Über einige [Um]Wege fand er die ihm wohl adäquatesten Ausdrucksformen: Musik und Schrift. Er brachte sich das Gitarrespielen bei, spielte Konzerte und fing allmählich an, selbst Noten zu schreiben.Seine Bemühungen jedoch, ein offizielles musikalische Studium zu absolvieren, stießen auf Ablehnung.Das änderte sich erst und dafür prompt mit der politischen Wende in Deutschland: Der Autodidakt wurde Meisterschüler bei Georg Katzer an der Berliner Akademie der Künste.Er schrieb bis heute über 150 Werke für Konzert und Musiktheater in allen möglichen Besetzungen,die oft auch die Gebärdensprache miteinbeziehen. Aber immer noch glaubt er,dass ihn der eine oder der andere Zufall auch zu ganz anderen Beruf[ung]en hätte führen können – und es auch immer noch könnte. Und diese Überzeugung macht ihn und seine Musik offen für alle möglichen Einflüsse aus Leben und Kunst.

Ich bin weniger Komponist, als Geschichtenerzähler. Ich vertone meine Muttersprache, die Gebärdensprache - die ja die einzige Sprache ist, die bislang keine Schrift hat, aber über eine Grammatik im Raum verfügt.

Verlorenwasser ist,wie alle Titel von Oehrings Werken, ein Sprechender. Titel sind für den Komponisten eigentlich wichtiger als die Musik selbst: Sie ist für ihn »nur« das Medium, die hinter den Titeln verborgenen realen Geschichten, Biografien oder Charaktere zum Vorschein zu bringen, von denen er erzählen muss.

Bevor ich anfange zu schreiben, gibt es immer den Titel, die Story, die zu dem Titel gehört, und die Besetzung. Sonst nichts, keine Skizzen oder Notizen zu kompositorischen Ideen. Ich schreibe fast immer direkt in die Partitur, alle Instrumente quasi gleichzeitig. So entwickelt sich die Erzählung Takt für Takt. Die Gedanken, die sich angesammelt haben und solche Geschichten formen, sind Bewegungen, gleichzeitige Bewegungen von Händen, Gesichtern, die erzählen. Diese abstrakte Abfolge von Gebärden, die ich im Kopf habe, könnte ich niemals in »reale« Gebärdensprache übertragen, aber ich kann sie in Musik übersetzen.

Oehring überträgt den Musikern und Darstellern mit seinen Partituren die Aufgabe,diese realen Begebenheiten wieder anders zum Leben zu erwecken. Seine Intention: Er möchte Existenzen, seien es Orte, Geschehnisse oder Personen, die uns scheinbar bekannt, selbstverständlich und normal vorkommen, wieder neu erleb- und fühlbar machen. Und er glaubt, dass die Musik genau in dieser Funktion tiefer wirken kann als alle Künste und jede andere Art von Darstellung.

komponieren ist kein wirklicher beruf
man bekommt zeit und bilder und kraft
zur verfügung gestellt
geschenkt
die man zurückgeben
schenken
muss bzw. darf
hierbei geht es immer um das
verwandeln

von … in … und wieder zurück - woandershin

kunst ist in dieser welt weniger als ein nichts
aber sie kann!:
[in welcher form -
z.B. musik, sprache, malerei, film, darstellung -
auch immer]
subversiv und auf intuitiv nicht gekannten
keller-gängen
bewusstsein und fühlen zugleich
reanimieren
wache augen und überempfindsame haut
ermöglichen
und ab und an einen festen schritt
und einen lauten klaren schrei
auch etwas darüber hinaus
hervorrufen

Oehrings Stücke haben nicht nur sprechende Titel, sondern meistens auch Untertitel.Verlorenwasser wird ergänzt durch den Zusatz aus: Der Ort/musikalisches Opfer. Mit der Zuordnung zu einem bestimmten Zyklus möchte der Komponist vor allem eines deutlich machen: Dass seine Werke nie für sich alleine stehen, sondern immer in einem größeren Zusammenhang.Und dass für ihn mit dem letzten Taktstrich einer Komposition die Auseinandersetzung mit ihrer Geschichte nicht einfach aufhört.Jedes Ende eines Stückes ist gleichzeitig der Anfang eines neuen. Eigentlich könnte man sagen, dass Oehring an einem einzigen großen Zyklus schreibt, der in verschiedenen Titeln und Untertiteln und Zyklen existiert. Dem entspricht auch seine Kompositionstechnik: Er verzahnt in jedem neuen Stück neue Ideen und Klänge mit alten, eigene mit fremden Zitaten. Jedes Werk verweist auf seine Vorgänger und zugleich auf seine Nachfolger sowie auf Einflüsse anderer Musiker und Komponisten. Somit malt jedes Stück ein Bild auch von Oehrings künstlerischer Entwicklung und Auseinandersetzung. Der Untertitel von Verlorenwasser baut sozusagen den Rahmen für mögliche Bilder: Er richtet den Focus nicht nur auf die Bedeutung des gleichnamigen Ortes, sondern zieht auch eine Verbindung zum Werk Johann Sebastian Bachs – ein »Namensvetter« vom kleinen Flusslauf in der märkischen Heide…

Orte haben für Oehring immer etwas mit Sprache zu tun, Orte sind für ihn bedeutsam,weil immer etwas Gesagtes, Gezeichnetes, Gehörtes, Gesehenes: Geschehenes an ihnen haftet. Durch Sprache – sei es in Worten, Gebärden, Klängen oder Bildern – werden die auratischen Konturen von Räumen
geschaffen und bewahrt – über ihre konkrete Existenz hinaus, die ähnlich vergänglich ist wie die von Musik oder Sprache.Leer stehende Räume werden gefüllt…

Man muss sich darüber im Klaren sein, welch große Rolle Orte spielen - als Eindampfungen historischer, biografischer, individueller, gesellschaftlicher und politischer Geschichte[n]. Mich beeindruckt in diesem Sinne die Wahrhaftigkeit von Orten. Verlorenwasser als Ort habe ich für diese Komposition gewählt, weil seine spezifische Geschichte bereits allein im Namen existiert. Weil er als poetisches Symbol dienen kann, die Empfindlichkeit, Verletzlichkeit und Vergänglichkeit von Orten aufzuzeigen.

In Oehrings Werken übernimmt die Musik die Rolle des Erzählers - fast immer in enger Verknüpfung mit Texten,die nicht nur gesungen oder gesprochen, sondern auch gebärdet werden. Verlorenwasser ist sein erstes Stück, in dem eine ganze Gruppe von Gehörlosen agiert: Ein neunköpfiger Chor realisiert mit Fingeralphabet und Gebärden die detailliert in die Partitur integrierten Ausführungsanweisungen. Anders als in allen davor entstandenen Kompositionen stellt Oehring hier mit der Einbeziehung von Nichthörenden und ihren Zeichen in die Musik aber weniger die Frage nach den [Un-] Möglichkeiten von Kommunikation. Vielmehr malen in Verlorenwasser die Gehörlosen auf ihre ganz spezielle Art und Weise das Bild,von dem auch die anderen Musiker erzählen - in einer jeweils ganz anderen Form: die komplex strukturierten Orchestergruppen mit ihren dynamisch flutenden und abebbenden, atmosphärisch-filmartigen Klangflächen auf der einen Seite und ihren filigran-verschachtelten, murmelnden bis kreischenden Klangstrudeln auf der anderen; die beiden Instrumentalsolisten an der E-Gitarre und am Kontrabass,die auch improvisieren; die Gesangssolistin,die einige mögliche Nuancen menschlicher Stimme bietet, vom flüsternden Sprechen über Singen mit dem Voice-Transformer bis zu opernhaften Vokalisen; und schließlich die Live-Elektronik mit ihren assoziativen bis konkreten Sound-Zuspielen. Ab und zu übernehmen die einzelnen Akteure aber auch die Ausdrucksweisen der anderen – etwa, wenn der Kontrabassist Pizzicati mit Fingeralphabet anschlägt,der E-Gitarrist sein Instrument über die Talk-Box zum Sprechen und Singen bringt, die Schlagzeuger »schreib-ähnlich« mit dem Besen über die Snare Drums wischen oder die Gehörlosen in Lautsprache flüstern.

Ein Gefühl unendlicher Taubheit überkommt mich, wenn ich die Vergangenheit
loslasse und der Zukunft entgegen schwimme.

[aus Unsichtbar Land oder Der Sturm]

So erzählen sie alle zusammen die verschiedenen Geschichten und zugleich ein und dieselbe Geschichte von Verlorenwasser. Vom gleichnamigen Bach, an dessen Ufer der Ort liegt. Und vom Wasser, in all seinen Aggregatzuständen: Wie die Flut schwillt in den ersten fünf Minuten der Komposition die Musik an, unterstützt von kleinen Fingeralphabet-Wellen des Gebärdenchors. Unruhig schaukeln sich die einzelnen Orchesterabschnitte zu heftigen, abrupt in glasklaren Klangflächen mündenden Höhepunkten.Es regnet, gewittert und friert.Aber es schmilzt auch wieder und klart auf.

Frostkälte. Luftkalt. Trockengrauwind. Schlimmegewitter. Strandhartmeer.
Schneenassregen.
Blaumeer und Warmsonne. Ach, Wasserordnung. Mutmeerlaufen.

[aus Verlorenwasser]

In vielen Stücken Oehrings,die Verlorenwasser bis heute folgten,dominieren Wasserbilder – als »Landschaften« existentieller Erfahrungen: Im Musiktheater BlauWaldDorf [2002] verlässt Andersens kleine Seejungfrau für immer ihre Welt, um erst nach dem Tod mit ihrer Seele in den Schaum der Wellen zurückzukehren. Im Orchesterstück Blaumeer [2003] blickt ein Wanderer vom Ufer aufs Meer als ein Ort seiner Kindheit. In Wozzeck kehrt zurück [2004] ertränkt sich Büchners tragischer Held bekanntlich nach dem Mord an seiner Marie im Dorfanger.Und in der Oper Unsichtbar Land oder Der Sturm [2005] nach Shakespeare und Purcell wirft das verhexte Meer die Akteure auf eine Insel… Ein Wasser-Zyklus?

Geflohen in die glitzernden Ozeane der Erinnerungen.
[aus Unsichtbar Land oder Der Sturm]

Im Rückblick sagt Oehring, er habe das Wasser als sinnbildliche Ebene, genauer: als Lebewesen für sich entdeckt, als er 1985 – er selbst komponierte noch nicht – Hanns Eislers 14 Arten den Regen zu beschreiben erstmals hörte - »diese kurzen Momentaufnahmen, die angesichts der Vergänglichkeit den Moment festhalten wollen und sich dennoch dem Fluss hingeben. Sie sind für mich Reisen,Erinnerungen,eine Art von Drinnen nach Draußen Schauen oder am Ufer Stehen und aufs Meer Blicken. Der Moment brennt sich auf der Haut ein.« Eisler schrieb seine Musik zum Film Regen von Joris Ivens 1941 im amerikanischen Exil – seine vielleicht traurigste und zugleich kämpferischste
Musik. Oehring spürte in ihr ein verwandtes Bewusstsein vom Fließen der Zeit, von der Vergänglichkeit, vom Abschied. Und zugleich den Willen, der Zukunft entgegen zu schwimmen.
[Zwischentexte: Helmut Oehring]

Der Gehörlose und die Kultur. Dazu gibt es viel zu schreiben. Doch um den Rahmen nicht zu sprengen, können hier nur einige wichtige Aspekte aufgezeigt werden.Uns geht es vor allem um einen Gesichtspunkt,der in den bisherigen Untersuchungen und Forschungen über Gehörlose verdrängt wurde: die Arbeit mit den Gehörlosen.
An allen wichtigen Stellen der Gesellschaft sitzen hörende Personen, die genau wissen, was für die Gehörlosen »gut« ist. Sie sind für oder gegen die bilinguale Erziehung. Sie sind für oder gegen die Anerkennung einer eigenständigen, gehörlosen Kultur.Doch was ist mit den Gehörlosen selbst,die mitreden, mitentscheiden, mitgestalten wollen? Das Angebot ist schlecht, sehr schlecht,und die Möglichkeiten einzuwirken ebenso.Wo liegt das Problem? Es ist die Kommunikation! Mit ihr steht und fällt alles! Es ist schwierig, Nichtbetroffenen zu erklären,was man fühlt,wenn man nichts hört und deshalb abseits stehen muß.Helen Keller,eine taubblinde Frau aus den USA,hat einen sehr treffenden Satz formuliert: »Nichts sehen,trennt von den Dingen, und nichts hören, trennt von den Menschen« Wer nichts hört, ist in mehrfacher Hinsicht benachteiligt. Das Gehör ist das wichtigste Kommunikationsmittel und für die Hörenden das »Tor zur Seele«. Das »Zentrum für Kultur und visuelle Kommunikation Gehörloser« hat es sich deshalb zur Aufgabe gemacht,den Gehörlosen ein breites Spektrum an Kultur zu bieten.Der wichtigste Aspekt ist dabei die Arbeit der gehörlosen Mitglieder selbst. Die Künstler möchten nicht nur ein Schattendasein fristen, sondern möchten mit ihren Fähigkeiten hinaus in die Welt.Zeigen, dass sie sich in dieser akustisch orientierten Gesellschaft auch behaupten können. Fähigkeiten und Fertigkeiten besitzen, die nicht bemitleidet werden müssen. Die Mitglieder des Zentrums versuchen sich auf vielen kulturellen Gebieten, sei es Theater, Pantomime oder Film. Die Musik ist eine neue Bereicherung unserer Angebotspalette.Helmut Oehring ist ein Komponist, der mit seiner Musik unsere und seine Gefühle wiedergeben möchte. Die Verbindung von Musik und Gebärde soll dem Publikum aufzeigen, dass dieser Bereich keine Tabuzone ist.Die Gehörlosen hören die Musik nicht, aber sie fühlen sie,und das ermöglicht ihnen eine aktive Teilnahme.»Die Hände,dessen bin ich mir fast sicher,können selbst reden…« [Quintilian]

Was ist,wenn etwas zerrinnt?
Wenn das,was da war,mit einem Mal nicht mehr greifbar,fassbar ist?
Zerrinnt dann auch die Erinnerung?
Zerfließen dann die Bilder des Gewesenen?
Wie verändert sich »Umfeld«?
Wird das veränderte Umfeld verändert wahrgenommen?
Kann es gleich sein und trotzdem anders?

Verlorenwasser.Ein Bach mitten in der märkischen Heide,der mal da ist und
mal nicht.
Und an dessen [vorhandenen oder nicht vorhandenen Lauf] sich der
Mittelpunkt der DDR befand.

Weniger als dieser Umstand waren es vielmehr die sich daraus ergebende Metapher des Verschwindens und Wiederauftauchens und der dem Namen innewohnende Simultanausdruck,der Helmut Oehring die Anregung zu seinem dritten großangelegten Orchesterwerk gab, das ebenso wie viele der vorangegangenen Werke Oehrings in einen Zyklus eingebunden ist

Völlig gehörlose Menschen zeigen keinerlei natürliche Neigung zu sprechen. Sprechen ist eine Kunst, die sie erst lernen müssen, und das bedeutet jahrelange harte Arbeit. Andererseits zeigen sie eine direkte, starke Neigung, sich der Gebärdensprache zu bedienen, die ihnen als visuelle Sprache in ihrem ganzen Umfang zur Verfügung steht. Das wird am deutlichsten bei gehörlosen Kindern von gehörlosen Eltern, die die Gebärdensprache benutzen: Sie machen im Alter von sechs Monaten die ersten Gebärden und bedienen sich dieser Sprache bereits neun Monate später mit beachtlicher Gewandtheit.
Es muß betont werden, dass sich diesen Kindern, auch wenn sie früh ein Gebärdenvokabular entwickeln, die Grammatik der Gebärdensprache im selben Alter und auf dieselbe Weise erschließt, wie hörenden Kindern die Grammatik der Lautsprache. Die Sprachentwicklung nimmt also bei allen Kindern, bei gehörlosen wie bei solchen mit intaktem Gehör, den gleichen zeitlichen Verlauf.Wenn Gebärden früher in Erscheinung treten als Sprachlaute, dann deshalb,weil sie einfacher zu verwirklichen sind,denn sie setzen vergleichsweise einfache und langsame Muskelbewegungen voraus,wogegen die gesprochene Lautsprache auf der unmittelbaren Koordination unzähliger verschiedenartiger Strukturen beruht.Diese Koordination ist erst im zweiten Lebensjahr erreichbar.Es ist allerdings bemerkenswert,dass ein taubgeborenes Kind bereits im vierten Lebensmonat mit einer Gebärde »Milch« bezeichnen kann,während ein Kind mit Gehör in solchen Fällen nur schreit oder hilflos um sich blickt. Vielleicht wäre allen Kleinkindern geholfen, wenn sie einige Gebärden kennten!
Sprache ist nicht lediglich eine Fähigkeit oder Fertigkeit unter vielen, sondern sie ist das,was das Denken ermöglicht,was Denken von Nicht-Denken, das Menschliche vom Nicht-Menschlichen unterscheidet. […..] Eine echte Sprache wird ständig durch grammatische und syntaktische Mittel aller Art moduliert.Die ASL [Amerikanische Zeichensprache; aber ähnliches gilt für jede der zahlreichen Gebärdensprachen] ist außergewöhnlich reich an solchen Ausdrucksmitteln,die das Grundvokabular gewaltig erweitern.
So gibt es zahlreiche Formen von ANSEHEN [»sieh-mich-an«,»sieh-sie-an«, »sieh-jeden-von-ihnen-an« usw.], die alle auf ihre eigene Weise dargestellt werden: Die Gebärde für ANSEHEN zum Beispiel wird gemacht,indem der Sprecher eine Hand von sich fort bewegt, die Abwandlung »einander ansehen« wird dagegen mit beiden Händen ausgeführt,die sich gleichzeitig aufeinander zu bewegen.
Es steht eine große Zahl von Formen zur Verfügung, die zeichnerische [?] Aspekte zum Ausdruck bringen; so kann ANSEHEN modifiziert werden zu»erstaunt blicken«,»dauernd nsehen«,»starren«,»beobachten«,»lange ansehen« oder »immer wieder ansehen« sowie viele andere Abwandlungen ausdrücken, darunter auch Komposita der oben genannten Wörter. Außerdem gibt es zahlreiche Ableitungen, bei denen das Zeichen SEHEN auf bestimmte Weise verändert wird und dann »sich erinnern«, »besichtigen«, »erwartungsvoll entgegensehen«, »voraussehen«, »voraussagen«, »erwarten«, »den Blick schweifen lassen«,»sich umsehen« usw.bedeutet.
Auch das Gesicht kann in der Gebärdensprache eine besondere linguistische Funktion haben: So können bestimmte Ausdrücke, eher »Verhaltensweisen« des Gesichtes, dazu dienen, syntaktische Konstruktionen wie Topikalisierung, Relativpronomen und Frageformen zu bezeichnen, als Hinweis auf ein Adverb oder zur Quantifizierung eingesetzt werden. Es können auch noch andere Körperpartien einbezogen werden.Dies alles oder ein Teil davon – dieses gewaltige Spektrum räumlicher und kinetischer Beugungen – kann in den Stammgebärden zusammentreffen,mit ihnen verschmelzen und sie modifizieren, so dass die daraus entstehenden Gebärden eine gewaltige Informationsmenge enthalten.
Die Verdichtung dieser Gebärdeneinheiten und die Tatsache, dass alle ihre Modifizierungen räumlich ausgedrückt werden, bewirken, dass die Gebärdensprache auf der sichtbaren Ebene völlig anders ist als jede Lautsprache. Sie sind teilweise dafür verantwortlich, dass die Gebärdensprache lange gar nicht als Sprache angesehen wurde.Dennoch ist es,neben ihrer einzigartigen räumlichen Syntax und Grammatik, genau das,was die Gebärdensprache zu einer echten, wenn auch ganz neuartigen Sprache macht, einer Sprache, die abseits vom entwicklungsgeschichtlichen »Mainstream« aller anderen Sprachen entstanden ist und eine evolutionäre Alternative sui generis darstellt. Das herausragende Einzelmerkmal der Gebärdensprache - das,was wie von allen anderen Sprachen und geistigen Tätigkeiten unterscheidet- ist ihre einzigartige linguistische Nutzung des Raums.Die Komplexität dieses sprachlichen Raums ist für das »normale« Auge überwältigend – es kann die enorme Vielfalt und Feinheit der räumlichen Muster nicht erfassen,geschweige denn verstehen.
Wir sehen also,dass sich die Gebärdensprache auf allen Ebenen – auf der lexikalischen, der grammatischen und der syntaktischen Ebene – den Raum linguistisch zunutze macht, und diese Nutzung ist unglaublich komplex, denn vieles,was die Lautsprache linear, sequentiell und in zeitlicher Abfolge ausdrückt, wird in der Gebärdensprache zu etwas Gleichzeitigem, Gleichberechtigtem, Vielschichtigem. Die »Oberfläche« der Gebärdensprache mag einfach aussehen,wie die der Gestik oder der Mimik,aber man stellt bald fest, dass dies eine Täuschung ist: Was so einfach aussieht,besteht in Wirklichkeit aus unzähligen, räumlichen Mustern, die dreidimensional ineinander verschachtelt sind.Man braucht nur einmal zwei Menschen zuzusehen,die sich in der Gebärdensprache unterhalten, um zu verstehen, dass diese Sprache etwas Spielerisches hat, einen Stil, der sich deutlich von dem der gesprochenen Sprache unterscheidet. Benutzer der Gebärdensprache neigen dazu, zu improvisieren, mit den Gebärden zu spielen, ihren ganzen Humor, ihre Phantasie, ihre Persönlichkeit in ihre Gebärden einfließen zu lassen, so dass diese Sprache nicht nur die bestimmten grammatischen Regeln folgende Manipulation von Symbolen,sondern in ihrem nicht reduzierbaren Kern die Stimme dieses Menschen ist, eine Stimme, die von einer besonderen Kraft erfüllt ist,weil sie sich so unmittelbar durch den Körper mitteilt.Man kann eine körperlose Stimme haben [oder sie sich vorstellen], aber eine körperlose Gebärdensprache ist unmöglich.
Der Körper und die Seele eines Menschen, der sich der Gebärdensprache bedient,seine einzigartige menschliche Identität,findet ständig Ausdruck im Akt des Gebärdensprechens.

(Prrgrammheft muscia viva)