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8. Symphonie für großes Orchester


«Ut pictura musica« – so könnte in Abwandlung des berühmten Diktums von Horaz der Wahlspruch Karl Amadeus Hartmanns für sein Komponieren lauten, wenn man den Bezug zur Bildenden Kunst in seinem Werk ernst nimmt, den Hartmann stets betont hat. Hartmanns Vater Richard und sein Bruder Adolf waren Maler, und Hartmanns Wohnung in der Schwabinger Franz- Joseph-Straße,die heute Sitz der vor kurzem gegründeten Hartmann-Gesellschaft ist, beherbergte eine erlesene Kunstsammlung. Bis zu seinen letzten Werken fühlte Hartmann sich einer künstlerischen Vorgehensweise verbunden, die jeden einzelnen Ton als Farbwert einer gewissermaßen als»Leinwand« empfundenen Partitur betrachtete, ohne jedoch einem statischen oder meditativen musikalischen Impressionismus zu huldigen. Teil und Ganzes standen für Hartmann vielmehr in einer unauflösbaren dramatischen Verbindung, deren optische Dimension beim Blick auf eine Partiturseite Hartmanns mit ihrem charakteristischen wellenförmigen und zugleich äußerst differenzierten Ablauf auch sinnlich greifbar wird. Seine Musik entstand – nach Hartmanns eigenem Zeugnis – in einem vielschichtigen Arbeitsprozess, der das »Al fresco« des Entwurfs mühsamer konstruktiver Feinarbeit unterzog, der Spontaneität und Chaos mit Reflexion und Ordnung in eine spannungsreiche Balance brachte. Da das Detail in dieser Vorstellung das Ganze überhaupt erst bedingt,kommt dem einzelnen klanglichen Ereignis ein unerhörtes Gewicht zu. Seine Setzung war für den Komponisten ein sorgfältiger und skrupulöser Akt,der vor allem den expressiven Gehalt der »kleinsten Phrase« bewahren sollte.Diesen Gehalt empfand Hartmann – ähnlich dem Phänomen der Farbe – als etwas Naturhaft- Präexistentes, wodurch die Funktion des Komponisten auch in eigentümlicher Weise für ihn in das romantische Licht eines Mediums rückte: »Dieser Expressivcharakter ist nicht etwa meine Hervorbringung, er steckt bereits darin,ist sozusagen musik-immanent,und ich habe ihn lediglich zu horchen und ihm nachzugeben. Deshalb gibt es in meiner Musik nach meinem Dafürhalten keine Zufälle und ich übernehme mich nicht mit der Behauptung, niemals eine Note geschrieben zu haben, die ich nicht vorher in allen ihren Bezügen, rhythmischen wie klanglichen,horizontalen wie vertikalen, abgewogen habe. Während der Arbeit bewegt mich auch sehr stark der Gedanke an die Wirkung des fertigen Werkes: das Ganze soll ein Stück absoluten Lebens darstellen – Wahrheit,die Freude bereitet und mit Trauer verbunden ist.« [Von meiner Arbeit,1962].
In dieser späten Äußerung steckt ein ästhetisches Programm,das Hartmanns existentialistisch und expressionistisch durchtränkten Kunstbegriff mit einem – hier nur zwischen den Zeilen erkennbaren – Bekenntnis zur Musik Anton Weberns und Gustav Mahlers zusammenspannt: Mit Webern,bei dem er in den Jahren 1941/42 Unterricht nahm, verbindet ihn die Zuspitzung des Geschehens auf das einzelne,brennspiegelartig den Gehalt des Ganzen bündelnde Ereignis; allerdings bindet Hartmann sich nicht an die Zwölftontechnik der Wiener Schule. Von Mahler ist die Idee der Symphonie als Metapher von Welt- und Selbsterfahrung aufgegriffen, ohne dass Hartmann sich aber – anders als Schostakowitsch – dem Synkretismus und Stilbruch der Sprache Mahlers hingibt. Die Strenge und Konsequenz, mit der Hartmann Form und Geist der Symphonie weiterführt,kennt in der Instrumentalmusik der 1950er Jahre kaum eine Parallele.[Vielleicht gibt es eine solche in der einzigen Symphonie eines anderen Webern-Schülers, nämlich der radikalen Symphonie Stefan Wolpes aus dem Jahr 1956,die vor zwei Jahren in der musica viva aufgeführt wurde.]
Hartmanns Bemerkung über die künstlerische Wahrheit, die »Freude macht«,erinnert noch an eine andere Aufgabe,die Horaz in seiner Poetik dem Dichter zuweist,nämlich sich entweder gesellschaftlich nützlich zu machen oder den Leser zu erfreuen [»aut prodesse volunt aut delectare poetae«].Diese Zuweisung ist für Hartmann nur als dialektische Brechung denkbar,die eine denkbar weite, geschichtlich gewissermaßen unüberbrückbare Entfernung zur Antike markiert, da die Musik wie die Kunst überhaupt ihre Unschuld verloren hat.Die gesellschaftliche Verantwortung der Kunst ist ein wesentliches Motiv und Charakteristikum der Hartmannschen Ästhetik oder besser Ethik: Sie ist schon in den frühen und wilden Stücken am Ende der 1920er Jahre spürbar, mit denen er sich gegen überkommene spätromantische Konzeptionen eines bloßen »l’art pour l’art« richtete, und wird spätestens ab dem bekenntnishaften musikdramatischen Hauptwerk Simplicius Simplicissimus zu einem zentralen Topos, freilich in der für Hartmann charakteristischen indirekten Thematisierung der biographischen und politischen Situation.Der Aspekt des »delectare«,der in den Einaktern des Wachsfigurenkabinett [1928-31] und anderen frühen Kompositionen als sarkastisch-burleske Heiterkeit und in der Ausrichtung an dem trocken-ironischen Ton der neoklassizistischen Werke Strawinskys präsent ist, verschwindet während der Zeit des Nationalsozialismus, der Phase der oft beschworenen »inneren Emigration«. In ihr findet Hartmann zu seiner eigenen Sprache. Sie ist von Entschiedenheit,Konzentration und expressiver Dichte geprägt,besitzt aber auch eine eigentümliche Verbindung von Apokalypse und Ekstase, die der Aufnahme und Deutung von Hartmanns Musik so große Schwierigkeiten entgegenstellt. Diese Querständigkeit wird zum Zeichen eines »movere«, einer emotionalen Bindung und Aufrüttelung des Hörers. Sie erzeugt aber auch die in der Vorliebe für das große Intervall und metrische Zerrissenheit zum Ausdruck kommende Binnenspannung von Hartmanns Musik, die zum Gegengewicht ihres hohen intellektuellen und konstruktiven Anspruchs wird. Hartmanns Musik neigt zum symphonischen »Bild« in einer doppelten Bedeutung des Wortes: Gattungsgeschichtlich rückt sie in die Nähe der symphonischen Dichtung, ästhetisch in die Nähe des »Tongemäldes«. Beides scheint in das 19. Jahrhundert zurückzuführen. Als Pendant der Orchesterwerke Hartmanns mit ihrer kompromisslosen, »absoluten« Modernität müssen aber die avancierten Tendenzen der Nachkriegskunst gelten, vor allem der abstrakte Expressionismus, der keiner gegenständlichen Inhalte oder Programme mehr bedurfte, um Ausdrucksintensität zu erlangen. Hartmanns Konzept von Modernität war zutiefst persönlich und subjektiv; dadurch distanzierte es sich vom Serialismus der 1950er Jahre und wurde zum verborgenen Vorbild für jüngere deutsche Komponisten der Nachkriegsgeneration wie Bernd Alois Zimmermann, Hans Werner Henze, Aribert Reimann und Helmut Lachenmann.Sie alle hatten ein durchaus distanziertes Verhältnis zu den als einengend empfundenen ästhetischen und technischen Konzepten des Serialismus, ohne auf der anderen Seite einemüberlebten Neu-Klassizismus zu folgen,der im Musikleben beider deutschen Staaten als Wiederanknüpfung an die Zeit vor 1933 die erste Option darstellte und als dessen Vorbild – in unzulässiger Vereinfachung – die Musik Paul Hindemiths galt.Hartmann selbst hatte sich in dem Beitrag Ist München reaktionär? von 1953 mit dieser Konstellation auseinandergesetzt und eine für ihn charakteristische differenzierte Position bezogen. Er kritisierte zwar die Gefahr konservativer Erstarrung eines bürgerlichen Publikums,betonte aber gleichzeitig die Bedeutung eines »kulturellen Traditionalismus«, der als Korrektiv eines blinden, technokratischen Fortschrittsverständnisses unabdingbar war.Hartmanns Plädoyer für historische Perspektiven und seine Ablehnung eines einseitigen technischen Standpunkts ist im Rückblick eine wesentliche Voraussetzung der expressiven Erneuerung der deutschen Musik, ohne die beispielsweise das Werk Wolfgang Rihms nicht denkbar wäre, das sich bezeichnenderweise auch der Symphonie wieder zugewandt hat. Diese Rahmenbedingungen gilt es zu bedenken,wenn man sich geistig und hörend Hartmanns letzter Symphonie zu nähern versucht. Als Auftragskomposition für den Westdeutschen Rundfunk fand die Uraufführung des Werks am 25.Januar 1963 mit dem Kölner Rundfunk-Sinfonieorchester unter der Leitung des bedeutenden Hartmann-Interpreten Rafael Kubelik statt. Das Werk ist - wie bereits auch die 6. und 7. Symphonie – zweisätzig: Einem eröffnenden langsamen Satz, der »Cantilene«, folgt ein scherzo- bzw. toccatenartiger zweiter Satz,der hier als »Dithyrambe« bezeichnet ist und seinerseits zweiteilig als Scherzo und Fuge angelegt ist. Die Spieldauer der 8. Symphonie beträgt kaum mehr als 25 Minuten, sie rechnet aber mit einem sehr großen Orchesterapparat: Bis auf die Tuba sind alle Bläser dreifach,das Horn sogar vierfach besetzt; der Streicherapparat umfaßt mindestens 60 Spieler, hinzu kommen die doppelbesetzte Harfe, Klavier und Celesta und reiches Schlagzeug.Man könnte diese Besetzung durchaus in die Nähe des Orchesters Mahlers [etwa der hypertrophen Besetzung der Symphonie der Tausend] rücken,wenn Hartmann nicht Farbmischungen und instrumentale Erweiterungen betonen würde, deren technische Behandlung und Klang genuin gegenwartsbezogen sind. So sieht der von sechs Spielern zu bedienende Schlagzeugapparat bei den Idiophonen [Selbstklingern] außer Triangel, Glockenspiel und Becken auch Instrumente wie Marimba, Vibraphon und Xylophon vor,die der Sphäre des Jazz entspringen und die auch Henze in seinen Partituren der 1950er Jahre gerne verwendete. Die Membranophone – kleine Trommel und Tam-Tam sowie im Hauptorchester die Pauken – und der Einsatz des Klaviers verweisen dagegen auf das zugleich schockhaft-geräuschhafte wie gläsern-transparente Klangideal der großen Ballette Strawinskys und Bartóks. [Die Pauken beanspruchen im zweiten Satz geradezu solistische Beachtung durch die hochvirtuosen Partien,die sie zu bewältigen
haben.] Dieses reiche Farbspektrum wird vervollständigt durch die Orientierung an dem sinnlich-analytischen Klangideal der Wiener Schule, also durch eine in zahllose Prismen zerfallende und in Verästelungen sich verzweigende Instrumentation, die eigentlich kammermusikalisch angelegt ist. Tuttistellen sind selten und damit exponiert: Im ersten Satz ist es die Katastrophenstelle der Takte 120f.,die in das zweigestrichene,über fünf Takte festgehaltene cis der ersten Trompete mündet.Für einen Moment scheint die Musik hier zum Stillstand zu kommen: Dann wird der Trompetenton von einem thematischen,unisono durch Piccolo-Flöte und Violen vorgetragenen Fragment aufgegriffen, dem ein wie improvisiert wirkendes Klangfeld des Schlagzeugblocks folgt.
Die dramaturgische Idee krisenhafter Zuspitzung und des Zerfalls des Orchesters in disparate Klanggruppen des Tutti,die sich an dieser Schlüsselstelle des ersten Satzes offenbart, wird im zweiten Satz weitergeführt.Dieser Satz, als Variationssatz angelegt, ist selbst eine Variation des ersten Satzes, so dass sich eine von Beethoven herzuleitende und von Bruckner weiterentwickelte
satzübergreifende Konzeption symphonischer Zielgerichtetheit abzeichnet.
Die Bezeichnung »Dithyrambus« – das ekstatische Loblied auf Dionysos,den Gott der Fruchtbarkeit und des Weines – könnte das Finale der 7. Symphonie Beethovens heraufbeschwören. Aber Hartmanns Auseinandersetzung
mit dem Problem der Symphonie führt ihn zu einer ebenso individuellen wie rätselhaften Formlösung.Der Konfliktstoff des ersten Satzes entlädt sich in einer Durchdringung symphonischer und konzertanter Elemente und einem Antagonismus der Orchestergruppen,die gewissermaßen gewaltsam und in einem doppelten Anlauf durch zwei »Finali per Tutti« zusammengezwungen werden. Die metaphorische Dimension wird zudem deutlich durch den Rückgriff auf die Fuge,die im Mittelpunkt des zweiten Teils – nach den drei Variationen und dem ersten »Finale« – des Satzes steht. Hartmann bedient sich des ehrwürdigen Topos des »Fuga coronat opus«, der Fuge als
Krönung des Werkes,doch er lässt diesen Weg scheitern.Unter dem geradezu brutalen,mit »tumultuoso« bezeichneten Ansturm des zweiten Tutti-Finales reißt die Fuge ab; der Schluss des Satzes und mit ihm der Symphonie können wohl mehr als neuerliche Frage oder These denn als Antwort gehört werden. So schwingen sich die ersten Violinen zwar zu einer lyrischen Figur auf, die Befriedung andeutet,aber die letzten beiden Takte erscheinen in ihrer aggressiven, nochmals das ganze Orchester vereinigenden Figur zur paradoxen Geste eines auffahrenden Abbruchs.Noch diese Geste weist über die in der 8. Symphonie erreichte meisterhafte Synthese der Stilmittel der Neuen Musik hinaus in eine neue,unbekannte Dimension »absoluten Lebens«.

Wolfgang Rathert

(Programmheft musica viva)