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" ... Même Soir.– "


Über eine bevorstehende Uraufführung zu schreiben, ist immer etwas Besonderes. Das Werk existiert als klingende Erscheinung noch nicht, man kann sich also auf keine Hörerfahrung stützen. Nur die Partitur, in der der Autor seine Vorstellungen schriftlich kodifiziert hat, ist vorhanden. Gegebenenfalls kann man sich auch noch auf verbale Auskünfte des Komponisten stützen. Doch die Partitur gilt gemeinhin als zuverlässigste Quelle der Informationen über äußere Werkgestalt und dahinter liegende Ideen.
Bei Heiner Goebbels sieht alles ein wenig anders aus. Eine definitive Partitur, greifbares Dokument eines abgeschlossenen Kompositionsprozesses, liegt bei Probenbeginn in der Regel nicht vor. Was er vorzuweisen hat, sind bestenfalls Arbeitsmaterialien – eine vorläufige Partitur, Notate, Arbeitsprogramme, Soundfiles. Und vor allem: den Kopf voller Ideen und genauer Pläne, wie das alles im Verlauf der Proben weiterzuentwickeln und zusammenzusetzen sei.
Das bewirkt gelegentlich, daß die Institutionen, die mit der Produktion eines neuen Stücks befasst sind, in leichte Panik geraten. Das Stück ist noch nicht fertig! Der Termin naht! Die Uraufführung ist gefährdet! Wesentlich gelassener sind dagegen die Interpreten. Mit ihnen arbeitet nämlich der Komponist die endgültige Gestalt des Werks erst aus. Sie sind also in den kreativen Prozess der Entstehung unmittelbar eingebunden. Und dieser Prozess hat seinen eigenen Rhythmus, seinen eigenen Zeitablauf. Das setzt nicht nur ungeahnte Energien frei, sondern beruhigt auch ungemein, was Terminpanik angeht. Diese ist letztlich überflüssig. Denn noch nie ist es bei Heiner Goebbels vorgekommen, dass ein neues Stück zur Uraufführung nicht fertig gewesen wäre. Wobei auch das Wort "fertig" relativ zu verstehen ist. Manchmal entwickelt es sich nämlich auch nach der Premiere noch weiter. Es ist zu jedem Zeitpunkt das Resultat der gemeinsamen Erfahrungen, die Komponist und Interpreten während ihrer Arbeit gemacht haben: work in progress im reinsten Sinn des Wortes. Erst nach der Uraufführung kristallisiert sich die endgültige Gestalt heraus, die von nun an als "das Werk" in Umlauf ist. Nun entsteht, als Summe all dieser Erfahrungen, auch die definitive Partitur. Verleger und Veranstalter atmen auf: Endlich ein Ende mit der Unsicherheit! Schluss mit dem Herumexperimentieren! Doch die Atempause ist kurz, denn bereits arbeitet Heiner Goebbels an einem neuen Projekt. Das nächste Abenteuer steht ins Haus.

Strasbourg, Anfang August 2000. In der "Laiterie", einem Off-Theater auf einem stillgelegten Gewerbeareal hinter dem Bahnhof, probt Heiner Goebbels mit den Percussions de Strasbourg sein neues Stück "… Même soir.–" . Vor der Bühne sitzt er an einer Art Regietisch, auf dem sich Computer, Keyboard und einer Menge Papiere befinden: Notenseiten, Notizbücher und Skizzenblätter mit graphischen Tabellen, in deren Spalten Bühnensituationen, Lichteinstellungen, musikalische Motive und Instrumentensymbole einander zugeordnet sind. Sie stellen einen möglichen Gesamtablauf dar. Hinter dem Komponisten, erhöht, das Equipment für Klangmischung, Video und Beleuchtung, insgesamt vier Leute. Auf der behelfsmäßig eingerichteten Bühne sind die Schlaginstrumente und Klangerzeuger in einem weiten Rechteck den Rändern entlang aufgebaut. Die Bühnenfläche ist weitgehend frei und für Gänge und besondere Aktionen reserviert. Am rechten Rand stehen sechs riesige große Trommeln – Objekte für spektakuläre szenische Aktionen?
Von einem Werkganzen ist man noch weit entfernt. In ständigem Dialog zwischen Bühne und Regietisch werden einzelne Passagen des Stücks ausgearbeitet. In manchen Stücken ist der Ausgangspunkt der Arbeit eine Raum- oder Bildvorstellung; bei "… Même soir.–" setzt Goebbels jedoch bei der klanglichen Seite an. Die Kollegen an Lichtund Tonpult folgen aufmerksam und schalten sich mit ihren Materialien diskret in die Abläufe ein; durch die Gänge und Gesten der Schlagzeuger kommt automatisch ein szenischer Aspekt ins Spiel. Musik und Szene durchdringen sich gegenseitig und beginnen Konturen zu entwickeln. Doch noch geht es dem Komponisten, der zugleich sein eigener Regisseur ist, vor allem um die präzise Klangcharakteristik: Welche Klangfarbe hat ein Tuttieinsatz, wie schlage ich mit der Rute durch die Luft, dass es am schönsten saust, in welcher Raumposition kommt ein bestimmter Klangerzeuger am besten zur Geltung? Instrumente werden ausgetauscht, Artikulationen präzisiert, kleine Veränderungen am Notentext angebracht, ganze Formteile umgestellt. Das nahtlose Ineinander der verschiedenen Aktionen und Klänge, die absolute Präzision der Einsätze sind noch zweitrangig. Das wird sich im weiteren Verlauf ergeben.

Bereits im Frühjahr 1999 hatte man sich erstmals getroffen: Komponist, Bühnenbildner, Tonregisseur und Interpreten. Zwei Tage lang wurde improvisiert und experimentiert, wurden Klänge, Instrumentalaktionen und Situationen ausprobiert, Lichteinstellungen und musikalische Bruchstücke aufeinander abgestimmt. Dabei konnte jeder seine eigenen Ideen und individuellen Ausdrucksweisen einbringen: Ein gemeinsames Wühlen im großen Materialtopf, der mit der Grunddisposition – sechs Schlagzeuger, Szene, Licht, Sampler, Mikrofonierung – gegeben war. Mit vielen Anregungen, Notizen und Aufzeichnungen ging Heiner Goebbels damals nach Hause. Ein Material- und Ideenfundus, aus dem in einem anderthalb Jahre dauernden Denkprozeß langsam die konkreten Umrisse des Werks heranreiften.
In der inneren Vorstellung des Komponisten verbanden sie sich unwillkürlich mit der zeitgleichen Lektüre eines Buchs. Heiner Goebbels versuchte, etwas von dessen Erzählhaltung auf seine Herangehensweise an die Komposition zu übertragen: "In jedem Abschnitt, in der ganzen Wortwahl, wird eine respektvolle Rücksichtnahme, ein vorsichtiges Zurücktreten vor etwas beschrieben. Selten die Sache selbst. Es ist eine um große Diskretion bemühte Schreibhaltung. Mich verblüffte, wie eine körperliche oder geistige Haltung, eine Lebenshaltung, sich in Wortwahl und Syntax manifestieren kann: Wann taucht das Subjekt im Satz auf, wie wird sein Erscheinen hinausgezögert usw. Das hat mich interessiert. Und – das sage ich jetzt im Nachhinein, damals war es mir noch nicht so klar – das hatte wahrscheinlich etwas mit meinem neuen Stück zu tun. Ich wollte im Grunde genommen nicht, dass die Schlagzeuger einfach drauflos spielen. Das können sie, das habe ich oft genug gesehen in Konzerten. Mich hat eine andere Herangehensweise an die Materialien interessiert. Das Indirekte. Nicht auf die Trommel hauen, sondern das Fell abmachen und ganz andere Klänge produzieren. Eine vorsichtige, aber im Detail sehr genaue Annäherung an ein Instrumentarium."
Den Titel des Buches will Heiner Goebbels nicht nennen, denn er möchte nicht auf eine Literaturvertonung festgelegt werden, die es in dem Stück gar nicht gibt. Einen konkreten Hinweis auf den Text liefert nur der Titel "… Même soir.–" – das Buch enthält eine Tagebuchaufzeichnung, die so überschrieben ist. Etwas von der Beiläufigkeit, Flüchtigkeit dieses Augenblicks möchte er in seiner Musik wieder erkennen.

Nun wird in Strasbourg in acht Probentagen Abschnitt um Abschnitt des neuen Werks auf die Beine gestellt und detailliert ausgearbeitet. Musikalische und szenische Elemente werden gleichzeitig entwickelt, wobei Heiner Goebbels großen Wert darauf legt, dass sich die sechs Musiker – fünf Männer und eine Frau – möglichst natürlich auf der Bühne bewegen. Lange Partien spielen sie auswendig, und in den solistischen Eingangssequenzen können sie mit den bunt zusammengesuchten Klangerzeugern ihrer Phantasie freien Lauf lassen. Es geht in diesem Stück nicht um symbolisches Theater, um das Als ob einer erzählten Botschaft, sondern um das Vorzeigen von konkreten Materialien, Aktionen und Haltungen: Sie werden sicht- und hörbar gemacht, beginnen gleichsam in direkter Rede zu sprechen. Die Percussions de Strasbourg haben schon ein paar Erfahrungen mit halbszenischen Stücken gesammelt, doch so frei und souverän wie hier haben sie noch nie agiert. Von der Peinlichkeit, die sich manchmal einstellt, wenn sich Musiker schauspielerisch betätigen müssen, keine Spur.
Wie kaum ein zweiter versteht es Heiner Goebbels, seine Interpreten aus der Reserve zu locken und ihre ganz individuellen Eigenschaften zur Entfaltung zu bringen. Damit befreit er sie aus der Rolle der bloß Nachvollziehenden, die einem fremden Willen unterworfen sind, und macht sie in gewisser Weise zu Mitautoren. Negativbeispiele hat er genügend beobachten können: "Man kann im Theater oft sehen, dass der Regisseur eine bestimmte Idee hat, aber nicht in der Lage ist, sie mit den Beteiligten umzusetzen. Entweder weil die Sänger nicht richtig laufen können, weil die Schauspieler nicht richtig singen können, oder weil die Tänzer nicht richtig sprechen können, oder weil das Bühnenbild doch nur aus Pappe und nicht eine wirkliche Wand ist. Man wird mit lauter Absichten konfrontiert und sieht die riesigen Verluste, die hinter diesen Absichten sind. Das möchte ich vermeiden. Mich interessieren nicht solche Absichten, sondern mich interessieren reale Partner auf der Bühne." Mit der suggestiven Fähigkeit, die Talente der Mitwirkenden zu entfalten, verbindet sich sein sicherer Instinkt für die Auswahl seiner Musiker-Darsteller. Viele von ihnen haben als Interpreten einen derart prägenden Einfluß auf "ihr" Stück gehabt, dass es ohne die individuelle Farbe, die sie ihm geliehen haben, kaum denkbar wäre. So etwa die Bühnenpräsenz von Ernst Stötzner und die Vokalakrobatik von David Moss in Die Befreiung des Prometheus , die afrikanischen Kora- und Vokalsoli von Sira und Boubakar Djebate in Ou bien le débarquement désastreux oder die unverwechselbare Aura der Musikerin/ Schauspielerin Marie Goyette im Theaterstück Die Wiederholung . Die Franco- Kanadierin, die bis dahin nie als Schauspielerin aufgetreten war, wurde von Heiner Goebbels für die Theaterbühne entdeckt. Auch "… Même soir.–" besitzt solche Qualitäten. Es ist ein Werk, das mit den Percussions de Strasbourg gewachsen und das dazu beschaffen ist, der Identität des Ensembles neue Facetten hinzuzufügen.
Seine Begabung, die Interpreten seiner Stücke zu sich selbst kommen und dadurch über sich selbst hinauswachsen zu lassen, verdankt sich nicht zuletzt seiner langjährigen Erfahrung auf den verschiedensten künstlerischen Gebieten. Die Resultate seiner Tätigkeit als Komponist für Theater und Konzert, als Improvisator, Studioarbeiter und Theaterregisseur sind im Lauf der Zeit in seiner künstlerischen Arbeit zusammengeflossen. Trennen lassen sich die verschiedenen Komponenten schon längst nicht mehr. Musikalische und räumlich-szenische Vorstellungen prägen gleichberechtigt das Erscheinungsbild vieler seiner Produktionen und machen aus ihnen eine Art von neuem Gesamtkunstwerk. Dies allerdings nicht verstanden im Sinne eines romantischen Illusionismus des 19. Jahrhunderts, sondern als Zusammenwirken der verschiedenen Wahrnehmungsebenen in einer Weise, die den Einzelkomponenten ihre Eigenständigkeit beläßt und dadurch, dass sie die Transparenz des Gemachten betont, der kritischen Wahrnehmung zum Recht verhilft. In "… Même soir.–" hat jeder der sechs Interpreten ein drahtloses Mikrofon am Körper, das stets unmittelbar auf das zu spielende Instrument gerichtet ist. Damit wird eine klangliche Verbindung von Live-Aktion und zugespielten Samples gewährleistet. Doch die technische "Künstlichkeit" des Klangs schafft Distanz, und indem das Spiel auf der Bühne stattfindet, der Ton jedoch aus dem Lautsprecher kommt, werden Klangmaterial, Aktionen und Haltungen in der Wahrnehmung zugleich dissoziiert.

Die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Beteiligten ist auch hier wieder ein Katalysator für das ästhetische Gelingen. Vom Klangregisseur, der das Klangresultat nachhaltig prägt, und vom Bühnenbildner, der einen ganzen Katalog von optischem Material in Form von Samples bereithält, kommen während des Entstehungsprozesses entscheidende Impulse. "Das ist das Schöne an der Arbeit mit Heiner Goebbels, dass man wirklich aufeinander reagiert", sagt Klaus Grünberg, der für Bühne, Video und Licht verantwortlich ist. "Wenn etwas gut aussieht, entsteht daraus eine Musik, und aus der Musik entsteht dann wieder ein bestimmtes Licht, eine bestimmte Farbe, eine Bewegung, ein Kostüm. Alle Einzelteile, alle Medien beeinflussen sich gegenseitig." Schon bei der Bühnenperformance Max Black , in der Licht und Feuer eine konstituierende Rolle spielen, hat er mitgewirkt: "Das ist das Spannende für einen Bühnenbildner, dass man vorher kein Modell baut, in dem sich dann die Schauspieler oder Musiker zurechtfinden müssen. Sondern man schaut sich erst einmal um: Was gibt es alles, wer spielt mit, was für Ideen haben die Leute. Und dann wächst alles nebeneinander und miteinander langsam heran. Das ist für mich eine phantastische Art zu arbeiten."

Lange hat man Heiner Goebbels vor allem als Komponisten wahrgenommen – als musikalischen Grenzgänger, zu dessen künstlerischer Praxis abwechselnd Improvisation und Konzertsaalmusik, Computersampling und Orchesterkomposition, Theatermusik und Hörspiel gehören. Seit einigen Jahren entwickelt sich seine Kompositionspraxis in Richtung einer Integration all dieser Komponenten. Der Ort, an dem sich der Integrationsprozeß vollzieht, ist mehr und mehr die Bühne, die Grenzen zwischen Komponieren und Inszenieren beginnen zu zerfließen. Mit "… Même soir.–" hat er einen weiteren Schritt in diese Richtung getan.

Max Nyffeler
Programmheft musica viva (28 . September 2000)