DVDs
Unbenanntes Dokument

Bardo


Die Sinne denken

Hans Zender gehört unter den wichtigen Komponisten der Gegenwart seit langem zu jenen, die das sprichwörtliche »stille Kämmerlein«, in dem neue Werke entstehen,immer wieder bewusst verlassen.Der Grund dafür ist nicht allein das Dirigieren, das Zender seit Jahrzehnten nahezu gleichberechtigt ausübt [wenn er es auch zugunsten des Komponierens in den letzten Jahren etwas reduziert hat], sondern kaum minder seine substantielle Beteiligung an vielen wichtigen Diskussionen zur Gegenwartsmusik oder zu bedrängenden Fragen der gegenwärtigen Kultur – bis hin zu deren drohendem oder teilweise bereits vollzogenem Abbau.
Als eines der Leitmotive von Zenders Engagement kann man seinen Einsatz für ein konzentriertes Wahrnehmen von Kunst und insbesondere von Musik bezeichnen. Dieser Einsatz weiß sich in ausdrücklicher Distanz zu jener auf oberflächliche Zerstreuung ausgerichteten Kulturauffassung, die Umberto Eco schon vor Jahrzehnten als »Spektakelkultur« bezeichnete. Für Zenders eigene Konzepte, von denen eine Auswahl im Jahre 2004 unter dem Titel Die Sinne denken erschien, ist die Einsicht wichtig, dass seit dem 20. Jahrhundert alle elementaren Dimensionen der Kunst und des Lebens einer Umwertung oder Neudefinition ausgesetzt worden sind. Seine Musik sucht in gewisser Weise nach Antworten auf manche dadurch entstehende Fragen.

Artikulierte Zeit

Ein auf den ersten Blick lapidar klingender,aber typischer Satz aus einem von Zenders Aufsätzen zur Musik lautet: »Hören heißt sich der [artikulierten] Zeit ausliefern«.Ähnlich wie der Philosoph Georg Picht,dem er wesentliche Anregungen verdankt, geht Zender von der Grundüberzeugung aus, dass Musik im vielfältigen, manchmal in Schieflagen geraten[d]en Spiel der kulturellen Kräfte heute mehr denn je etwas Notwendiges ist.Dies steht im ausdrücklichen Bewusstsein des Beethoven zugeschriebenen Satzes,Musik sei höhere Offenbarung als alle Weisheit und Philosophie. In dem hier anklingenden Ringen um Erkenntnis ist Zender – anders als die von ihm zitierten Philosophen – zugleich ein Praktiker, der die ganz spezifischen Möglichkeiten der gegenwärtigen Musik auslotet.Ohne der Musik zu viel Last als »tönende Philosophie« aufbürden zu wollen, beleuchtet er mit besonderer Vor- liebe immer wieder die spezifische Charakteristik der Musik als Zeitkunst. Zenders Wort von der artikulierten Zeit steht gerade unter diesem Aspekt auch in sinnfälliger Korrespondenz zu seinen eigenen Werken, in denen sich vielfältige Strategien der bewussten Zeitgestaltung finden. Sie machen auf diese Weise das Vergehen von Zeit bewusst, rufen auf zu einem besonders intensiven Erleben »in« der Zeit. Einige streben danach, gewissermaßen zwei Darstellungsmöglichkeiten von Zeit miteinander zu verknüpfen, ohne diese freilich zu homogenisieren: neben dem üblichen zielgerichteten Zeitverlauf steht ein Verlauf, der sich sozusagen rekursiv zurück zum Anfang wendet.Dies kulminiert in dem großen oratorischen Werk Shir hashirim , in dem eine freie Rondoform,deren Art der Verzweigung mit der Chaostheorie zusammenhängt, ein Spiel mit der Wiedererkennbarkeit des schon Dagewesenen zu treiben scheint.
Ein für Zenders eigene Überlegungen besonders wichtiger Aspekt ist in diesem Zusammenhang die Frage nach der »Wertigkeit« musikalischer Zeitstrukturierungen. Wie unterschiedlich dies geschieht, ist heute allgemein bekannt: Es scheinen Welten zu liegen zwischen dem besonders in der klassisch-romantischen Tradition ausgeprägten Dynamismus, der mit dem steten Vorwärtsdrängen zu einem Telos synonym ist, und andererseits den geradezu antiteleologischen Gestaltungen, die sich ansatzweise schon bei Schubert oder Schumann und dann ganz besonders in etlichen Musikwerken des 20. Jahrhunderts finden lassen.Die Musik der Gegenwart hat bei der Ausreizung dieses Feldes von Möglichkeiten gerade in jüngerer Zeit eine bemerkenswerte Beharrlichkeit gezeigt. Immer wieder geht es um kompositorische Ansätze, mit denen der übliche teleologische Zeitverlauf durch andere Darstellungsmöglichkeiten ersetzt oder zumindest kontrapunktiert wurde. Die Werke Zenders knüpfen in dieser Hinsicht namentlich an Gestaltungsweisen von Giacinto Scelsi, Olivier Messiaen und Bernd Alois Zimmermann an, drei Komponisten, mit denen Zender sich besonders intensiv beschäftigt hat.

Asien-Bezüge

Dies markiert zugleich eine der Stellen von Hans Zenders Komponieren, an denen seine intensive Auseinandersetzung mit bestimmten Bereichen des fernöstlichen Denkens, namentlich denen des Zen-Buddhismus, eine wesentliche Rolle spielt. Er hat sich mit den verschiedensten Bereichen fernöstlicher Kulturen befasst – das Spektrum reicht von den prägenden Schriften des alten China bis hin zur Philosophie der Kyoto-Schule, die ja ihrerseits einen Brückenschlag zwischen östlichen und westlichen Perspektiven verkörpert.
Einige von Hans Zenders Texten über Musik werben nachdrücklich dafür, in zen-buddhistischem Denken selbst in der Übertragung auf europäischen Kontext nicht bloß etwas modisch »Esoterisches« zu sehen, sondern die Kraftquelle für ein ästhetisches Empfinden, das durchaus auch mit »europäischen « Vorstellungen verknüpft werden kann.Man wird in diesem Zu– sammenhang, der wegführt von allen exotistischen Neigungen, vor allem zwei Aspekte unterscheiden müssen: einmal die Konzentration auf das Wesentliche, zum anderen die Tendenz,andere formale Wege zu beschreiten als die von der europäischen Tradition vorgezeichneten – womit dieser Aspekt eine Fortsetzung des eben zum Thema Zeitgestaltung Gesagten ist. Biografisch gesehen waren es mehrere seit 1972 unternommene Reisen, auf denen Hans Zender mit fernöstlichem Denken in Berührung kam. Unter dem Eindruck des alten Japan, im Kontrast zum modernen Japan, trat ins Bewusstsein, dass sich die spezifische Intensität dieses Denkens gegen vielerlei andere Tendenzen behaupten musste. Wenn Zender selbst gelegentlich von der Folge seiner »japanischen Stücke« spricht,klingt darin ein Fünkchen Ironie an. Denn es ist ihm selbstverständlich, dass es problematisch, wenn nicht sogar unsinnig ist,sich als europäischer Komponist beim Schreiben von Musik asiatisch einzukleiden und so zu tun, als sei das Geschriebene eine bruchlose Fortsetzung jahrhundertealter fernöstlicher Traditionen. Insgesamt stehen die Bezüge zum ostasiatischen Denken wohl vor allem für den Versuch,aus der Enge und der Begrenztheit des europäischen Musikdenkens [und besonders dem, was Zender »klassische Avantgarde« nennt] herauszuführen. Das »Asiatische« läuft bezeichnenderweise in seinen Stücken nicht auf Integration und Homogenisierung hinaus, sondern auf Aspekte, die desintegrierbar bleiben, die plötzlich aufblitzen und von Instabilität gekennzeichnet sind. Und gerade in den Haikus etwa des Zen-Mönches Ikkyu, die Zender in einem seiner Werke vertont hat, finden sich auf so faszinierend pointierte Weise elementare Wahrnehmungszusammenhänge, dass es – um hier den Spieß einmal umzudrehen – fast überraschend gewesen wäre,wenn ein für elementare Wahrnehmung offener Komponist wie Hans Zender nicht irgendwann den Weg zu ihnen gefunden hätte.
Mit Blick auf verschiedene Wege der Strukturierung von Musik sei noch kurz auf den 1981 entstandenen Aufsatz mit dem Titel Betrachtung der Zwölftonleiter des alten China hingewiesen. Denn darin beschreibt Zender die Systematik und die Naturorientierung dieses Musikdenkens, um schon damals über Möglichkeiten der Kombination mit dem westlichen Tonsystem nachzudenken. Wozu seine intensive Beschäftigung mit derartigen Elementen anderer Kulturen dient, erläutert ein eher nüchtern klingender Satz im Anfangsteil dieses Beitrags: »Vom Standpunkt des Komponisten aus […] möglicherweise eine Anregung für die spekulative Phantasie«. Eine ähnliche Funktion für sein Komponieren erfüllen die aus China kommenden sogenannten »magischen Quadrate«,die – anders als ihr Name suggeriert – keinerlei Magie oder faulen Zauber in Zenders Musik hervorrufen sollen. Dies sind Beispiele dafür,dass in vielen Bereichen asiatischen Denkens elementare Perspektiven anklingen, die der spekulativen Phantasie eines Komponisten wie Hans Zender [wie vor ihm schon John Cage,Giacinto Scelsi oder Olivier Messiaen] gewisse Impulse geben und dazu verhelfen,verschiedene Konditionierungen dieser Phantasie zu überwinden. Es wäre dennoch paradox und unsinnig, wollte man von Hörern seiner Musik verlangen,sich nun auf dieselben Pfade in einen Bereich außerhalb Europas zu begeben.Weder Zenders Musik noch seine Texte transportieren asiatische »Botschaften« oder gar griffige Anleitungen zur Meditation.
Zenders Beschäftigung mit außereuropäischen Kulturen deutet also generell auf den Versuch, aus der Begrenztheit des abendländischen Denkens herauszufinden, ohne eine europäische Kunstauffassung völlig abschütteln zu wollen. Bezeichnenderweise sind seine Werke, die nicht-europäische Perspektiven in sich aufnehmen,durchzogen von Elementen,die unintegrierbar bleiben. Dies deutet auf die Maxime, dass sich »Wahrheiten« jeweils neu erschließen lassen müssen.Dazu passt die Kernaussage von Zenders jüngstem Bühnenwerk, dem 2005 an der Staatsoper Berlin uraufgeführten Musiktheaterstück Chief Joseph . Denn darin geht es – in deutlicher Korrespondenz zu einem wichtigen Teil der gegenwärtigen »interkulturellen« Philosophie – um die Unvereinbarkeit verschiedener Kulturen und um die Frage,wie damit substantiell umzugehen ist.

Gegenstrebige »Harmonik«

In deutlichem Bezug zu solch produktiver Auseinandersetzung mit dem manchmal spannungsvollen Nebeneinander unterschiedlicher Kulturen steht in den letzten Jahren auch einer der zentralen Leitgedanken von Zenders Komponieren: das Konzept einer »gegenstrebigen« Harmonik. Zender entwickelte es in der Auseinandersetzung mit verschiedenen Möglichkeiten der Gestaltung,welche die angestammten wohltemperierten europäischen Wege zugunsten einer stark geweiteten Perspektive bewusst verlassen. Das im Jahre 2000 bei den Darmstädter Ferienkursen präsentierte Konzept sucht aus der gesamten Kompositionsgeschichte seit der Antike und bis in die Gegenwart bemerkenswerte Konsequenzen zu ziehen.Im Kern geht es dabei um die Erweiterung der Harmonik durch die Einbeziehung von mikrotonalen Elementen, dies übrigens mit ausdrücklichen Querbezügen auch zu verschiedenen europäischen Komponisten wie etwa Scelsi und Grisey.
Bereits verschiedene,Mitte der 1970er Jahre entstandene Werke Zenders hatten mit einer punktuellen mikrotonalen Auffächerung des Tonraums operiert. Von heute aus gesehen erscheint dies wie ein noch unsystematisches Vorecho auf das,was er später in seinen Kompositionen, aber auch in seiner theoretischen Schrift zu größerer Konsistenz entfaltete.Zender zielt mit seinem »gegenstrebigen« Konzept allerdings nicht nur auf eine eigenständige harmonische Gestaltung, sondern auch darauf, sich der klassischen Syntax von Musik zu entwinden. Dies geschieht nicht allein im Sinne einer Absetzung gegenüber vorherrschenden Formprinzipien der klassisch-romantischen Tradition, sondern auch – oder vielleicht sogar vor allem – gegenüber den Vorlieben der seriellen Musik der 1950er Jahre.Gerade in dieser Hinsicht setzt Hans Zender bestimmte Strategien fort, die auf dem »pluralistischen« Komponieren Bernd Alois Zimmermanns basieren, das sich in formaler Hinsicht als ausdrückliche Erweiterung des Möglichen ohne die Rückkehr zur Tradition verstand.

Bardo = »zwischen«

Die im Jahre 2000 uraufgeführte Komposition Bardo schließt in mehrfacher Hinsicht an die bislang beschriebenen zentralen Aspekte von Zenders Musikdenken an. In faszinierender Weise gelingt es diesem Werk, das Konzept einer »gegenstrebigen« Harmonik so kompositorisch umzusetzen, dass das klanglich Gestaltete zwischen organischen und widersprüchlichen Momenten oszilliert. Auf die konflikthafte Seite scheint der Werktitel beziehbar, denn »bardo« heißt im Tibetanischen »zwischen«. Im engeren Sinne liegt in der Wahl des Werktitels wohl auch ein Hinweis auf die harmonische Gestaltung vor,die an vielen Stellen nicht nur den Einzelton, sondern ganze Akkordketten zwi schen einem Vierteltonintervall pendeln lässt. Schließlich verweist diese Wahl aber auch auf Zenders Vorliebe für besondere Formen der Zeitgestaltung, in diesem Falle geht es dem Komponisten nach eigener Aussage um die Gestaltung »individueller Plätze zwischen Anfang und Ende eines Zusammenhanges«.
Auch in diesem Cellokonzert gibt es einen Bezug zu fernöstlichem Denken, auf den der Komponist selbst hingewiesen hat: Der Werktitel spielt an auf das im Original »Bardo Tödrol« genannte »tibetanische Totenbuch«. In diesem Kontext bezeichnet »bardo« ein Zwischenreich, in dem die Seele nach dem Tod auf ihrem individuellen Weg weiter wandert und sich mit schreckhaften oder beseligenden Erlebnissen auseinandersetzt.Die »gewaltigen Bilder dieses Buches« hätten bei der Arbeit an diesem Werk vor seinem Bewusstsein gestanden,äußerte Zender selbst.
Der etwa halbstündigen Komposition liegt bei alledem ein relativ klarer Formaufbau zugrunde: Fünf Soloabschnitten sind genau fünf Tutti- Abschnitte des ganzen Orchesters gegenübergestellt, allerdings mit stetig changierenden Klangfarben – auch dieses Pendeln könnte auf eine Lesart des Titels verweisen.
Komponieren ist für Hans Zender generell oft das Formulieren – und Lösen – bestimmter selbst gesetzter »Aufgaben«. Sucht man diese hörend nachzuvollziehen, ist auf diesem Wege, fernab von einem einseitigen Avantgarde- Begriff, auch das jeweils »Neue« seiner Werke zu erschließen.Auf diese Seite verweist Hans Zenders instruktiver eigener Kommentar zu diesem Werk,der auch die Spezifik des Soloinstruments umreißt: »Es waren verschiedene neue Möglichkeiten,die ich in Bardo zum ersten Mal verwirklichen wollte: Erstens kann der – von Michael Bach entwickelte – Rundbogen im gleichzeitigen Anstreichen aller vier Saiten die wunderbare ›braune‹ Farbe des Cellotons zu einem satten Dunkelbraun vertiefen und eröffnet für experimentierfreudige junge Cellisten neue technische Spielfelder. Zweitens erlaubt das beigeordnete ›Concertino‹ von zwei Klavieren und einem Schlagzeuger das Entstehen einer – gegenüber dem Orchester – zweiten autonomen Spielebene. Daraus resultiert ein Gesamteindruck zwi schen Kammermusik und Orchestermusik.Der Solist,vom ersten bis zum letzten Takt fast ständig präsent,erhält durch die formale Anlage des Stückes den Charakter eines verkörperten Energiezentrums, das den Hörer auf der Klangwanderung des Stückes von Landschaft zu Landschaft führt: Trotz aller virtuoser Aufgaben muss er ein Höchstmaß von konzentrativer Kraft ausstrahlen, die den Hörer auch durch dunkle und zerklüftete Wegstrecken ›hindurchzieht‹.Das bezeichnet eine neue Deutung der Funktion des Solisten in der Form des Solokonzertes,wie ich sie vorgebildet finde in den Solokonzerten von Bernd Alois Zimmermann.«

Zu Hans Zenders ›Bardo‹ [1999/2000]
[Jörn Peter Hiekel]

 

Bernhard Neuhoff im Gespräch mit Hans Zender

Herr Zender, das Wort Bardo stammt aus dem Tibetanischen und bedeutet »zwischen «. Was hat es auf sich mit diesem Titel?

Zunächst kann man das auslegen als eine Beschreibung meines harmonischen Denkens. Ich gehe zwi schen die Tonhöhen, die wir normalerweise in unserem Musikleben gebrauchen, also zwischen die Werte der chromatischen Skala. Nun kann man die ja auf verschiedene Weise unterteilen, als Drittel-,Viertel, Sechstel- und Zwölfteltöne. Bei den Zwölfteltönen sind wir nahe am kleinsten Wert, den unser Ohr noch deutlich wahrnimmt.Auf solchen sehr feinen Intervallabstufungen beruht meine Harmonik: Jeder Halbton wird in sechs Mikrotöne unterteilt.

 

Was treibt Sie zu einer so feinen Differenzierung? Ist das traditionelle abendländische Tonsystem für Sie erschöpft?

Nicht erschöpft,nein.Die temperierte Stimmung,die wir ja seit der Bach-Zeit benutzen, ist für meine Begriffe in eine Krise geraten.Manifest geworden ist diese Krise im Lauf der Entwicklung der letzten Jahrzehnte. Noch in der Zwölftonmusik ist man ziemlich unreflektiert von der temperierten chromatischen Skala ausgegangen. Unsere Ohren sind feiner und anspruchsvoller geworden – übrigens auch durch den zunehmenden Einfluss der historischen Aufführungspraxis. Wir haben ja eine immer aktiver werdende Szene, die sich der Barockmusik und der Renaissance widmet, ja sogar der Musik des Mittelalters. In dieser Musik gab es noch keine temperierte Stimmung, die Halbtonschritte waren also noch nicht alle gleich groß. Stattdessen hat man damals versucht, so nah wie möglich an die reinen Intervalle der Obertonreihe heranzukommen.Erst seit der Erfindung der temperierten Stimmung hat man einen Kompromiss geschlossen,durch den im Grunde kein einziges Intervall mehr wirklich sauber ist.Die Terzen sind alle zu hoch im temperierten System,die Septimen viel zu hoch.Wenn wir diese Intervalle einmal ganz rein hören, zum Beispiel von einem Vokalensemble, das sich auf historische Aufführungspraxis spezialisiert hat,dann merken wir plötzlich,wie phantastisch das ist: eine reine Terz,eine reine Septime!

 

Ein geradezu körperliches Erlebnis…

Ja, ein physisches und ein geistiges Erlebnis. Denn der Glanz eines reinen Intervalls hat auch auf unseren Geist eine sehr viel stärkere Wirkung als die verschmutzten Intervalle der temperierten Stimmung. Und ich möchte nun durch die Arbeit mit Mikrointervallen nicht bloß zu einer noch feineren Chromatik kommen – das hat man ja schon in den 1920er Jahren gemacht –, sondern verfolge dabei zugleich das Ziel,die alten,reinen Intervalle in neuem Glanz erstrahlen zu lassen: die reine große Terz der Obertonreihe [4:5], die reine kleine Terz [5:6],die reine Septime [4:7] und so weiter.Die Mikrotonalität, wie ich sie benutze, gibt mir dazu die Mittel an die Hand. Denn mit diesen kleinsten Intervallabstufungen kann man die verschmutzten Werte der temperierten chromatischen Skala korrigieren.Auf diesem Weg bin ich für mich persönlich – möchte ich sagen – auf eine Goldmine gestoßen.

 

Wenn Sie in diesem Zusammenhang Worte wie »verschmutzt« oder »Naturtonreihe « verwenden, fragt man sich allerdings, ob damit ein »Zurück zur Natur« intendiert ist, die Wiederherstellung einer verlorenen Ursprünglichkeit…

Nein, das wäre ein Missverständnis. Es mag allerdings sein, dass das im Hintergrund mit anklingt. Unser Bewusstsein hat Dimensionen, die uns entglitten sind, die wir aber trotzdem noch irgendwo in uns gespeichert haben. Wir tragen ja in uns die Erfahrung von unendlich vielen Generationen, die sich auf ihre Weise mit der Natur in allen ihren Spielarten beschäftigt haben. Das ist bei uns gewissermaßen abgesackt ins Unbewusste, aber es ist regenerierbar.

Und natürlich ist das eine Bewegung, die nicht nur die Kunst heute interessiert.Die Dimension des Ökologischen, um es mal so zu formulieren, betrifft ja alle möglichen Lebensbereiche.Meine kompositorische Ästhetik hat damit allerdings nicht unmittelbar etwas zu tun.Das würde sehr schnell zur Ideologie werden.Neulich hat mich sogar einmal jemand gefragt, ob das ethische Implikationen habe, dass ich so nachdrücklich auf die reinen Intervalle aufmerksam mache. Darum geht es nicht. Als Künstler bewegen wir uns in einem längst autonom gewordenen Terrain.Aber wir stoßen eben innerhalb dieses autonomen Terrains immer wieder auf die großen Probleme der Zeit, mit denen auch andere Metiers auf ihrem jeweiligen Feld zu tun haben.

 

Nun haben sich ja auch die beiden anderen Komponisten, die Sie für dieses Programm ausgewählt haben, Giacinto Scelsi und Gérard Grisey, auf ihre jeweils sehr persönliche Weise mit Mikrotonalität auseinandergesetzt, und beide haben sich zugleich darum bemüht, Schichten der Erfahrung neu anzusprechen, die die klassische Avantgarde verdrängt hatte.

Sicher, vor allem bei Scelsi ist das hochinteressant. Er hat sich ja bereits zu einer sehr frühen Zeit, in den frühen 1950er Jahren, auf ganz radikale Weise mit einer Neufindung von Klang beschäftigt.Ich sehe innerhalb der Neuen Musik eine Art von Spaltung, was die Ästhetik des Klangs angeht. Die eine Seite ist interessiert an Geräuschen oder geräuschähnlichen Klängen. Denken Sie an die große Bedeutung des Schlagzeugs bei Strawinsky und Varèse; dann, nach dem Krieg, kamen die elektronisch erzeugten oder verfremdeten Klänge,etwa beim frühen Stockhausen; und schließlich in unserer unmittelbaren Gegenwart die hochdifferenzierten Arbeiten von Helmut Lachenmann. Bei all diesen Komponisten geht die Entwicklung in Richtung auf eine Strukturierung von Geräuschen. Es geht also,physikalisch ausgedrückt, um aperiodische Schwingungen. Das ist die eine Schiene.Die andere scheint mir zu sein: die Neuentdeckung des Klangs, also der periodischen Schwingungen. Und da ist Giacinto Scelsi ganz sicher eine der wichtigsten Figuren. Im Zuge dieser neuen Beschäftigung mit dem Klang ist Scelsi auch auf die Möglichkeiten der Vierteltöne gestoßen. Dabei hat er allerdings im Gegensatz zu Grisey und mir noch ganz chromatisch gedacht – er unterteilt den temperierten Halbton noch einmal.Das Obertonspektrum spielt noch keine so große Rolle.

 

Sowohl bei Giacinto Scelsi als auch bei Ihnen gibt es ein sehr starkes Interesse für die alten Hochkulturen des fernen Ostens. Und damit bin ich wieder bei meiner ersten Frage. Denn der Titel Bardo bezieht sich ja auch auf das sogenannte Tibetanische Totenbuch, das »Bardo Tödrol«. Welche Rolle spielt die Bilderwelt des tibetanischen Buddhismus für ihre Komposition?

Zunächst einmal bin ich ein rational arbeitender, in der Gegenwart lebender Komponist, der sich über seine Arbeit Rechenschaft ablegt. Das ist die Ebene,über die wir bisher gesprochen haben.Doch darüber hinaus werde ich mir zunehmend über Fähigkeiten der Musik bewusst, die rein rational gar nicht zu fassen sind. Dazu gehört ihre Kraft, die Menschen zu einer inneren Sammlung zu bringen. Das scheint mir heute immer mehr ins Hintertreffen zu geraten: Musik wird,ganz allgemein gesprochen,immer mehr zu einer Art von Zerstreuungskunst.Davon möchte ich weg, und das verbindet mich mit Scelsi.Es geht darum,mit den Mitteln der Neuen Musik den Geist des Hörers zu einer Konzentration zu bringen. Interessanterweise hat sich auch Scelsi sehr viel mit der tibetanischen Kultur beschäftigt. In Tibet gibt es keine strukturelle Musik in unserem modernen, westlichen Sinn. Stattdessen haben die Tibetaner mit dem Klang selbst experimentiert,mit endlos wiederholten Ostinato-Figuren,die einfach im Raum stehen.Es geht dabei um eine Konzentrationsarbeit mit den Mitteln des Klangs.Diese Ebene der Musik ist aber für komplexere, in unserem westlichen Sinn komponierte Musik genauso wichtig.Auch darauf verweist der Titel Bardo : Es geht gewissermaßen um die geistige Konstanz des Menschen,um seine innere Periodizität.

 

Sie haben sich ja auch mit der traditionellen chinesischen Musik und vor allem mit dem japanischen Zen-Buddhismus intensiv auseinandergesetzt. Wie kam es zu dieser intensiven Auseinandersetzung mit den Hochkulturen des fernen Ostens in ihrem Werk?

Das war eine Japan-Tournee, die ich 1972 mit den Münchner Philharmonikern machen durfte. Da ist dieser Rieseneindruck der alten japanischen Kultur wie eine Lawine über mich hereingebrochen. Ich habe No-Theater gesehen, viele Tempel besichtigt und mich danach sehr intensiv mit der japanischen Kalligraphie beschäftigt, mir auch im Laufe der Jahre eine Sammlung zugelegt. Ich verdanke dieser Kultur unendlich viel an geistigen Anregungen. Das war ein Impuls, der mich plötzlich getroffen hat, als ich Anfang dreißig war,und bis heute hat mich das nicht losgelassen.

 

Es ist sicher problematisch, wenn wir vereinfachend von »fernöstlicher Kultur« reden – zwischen Japan, China und Tibet liegen ja wiederum Welten…

Ja,aber nur,wenn man es intellektuell betrachtet.Da gibt es natürlich unterschiedliche kulturelle Konventionen. Aber was letztlich identisch ist, ist der zentrale Impuls, dass alle diese Kulturen eine bestimmte geistig-konzentrative Ebene im Menschen anpeilen.Wenn man das vergleicht, stellt man mit großem Erstaunen fest, dass es sich dabei tatsächlich um dieselben Erfahrungen handelt, die allerdings mit verschiedenen kulturellen Zeichen ausgedrückt werden.

 

Es geht also bei dieser Auseinandersetzung mit den Kulturen des fernen Ostens um eine Kompensation für die Verwundungen, die unsere westliche Rationalität, unser auf Fortschritt ausgerichtetes Denken geschlagen hat?

Ja,das Wort Kompensation gefällt mir sehr gut.Wir müssen einen Ausgleich schaffen,und ich glaube,die Künstler haben geradezu den gesellschaftlichen Auftrag,in unserem modernen Bewusstsein etwas anzuregen,was ins Abseits geraten ist – nämlich das, was man mit dem alten Wort dafür die geistliche Ebene der Kunst nennen könnte.

 

Da tut sich ja eine enorme Spannung auf in ihrem Werk: auf der einen Seite eine sehr weitgehende Rationalisierung – denn wenn man jeden Tonschritt in zwölf Mikrointervalle aufteilt, erfordert das ja eine gewisse mathematische Durchdringung…

…»eine gewisse« ist gut! Da kann man jahrelang rechnen!

 

…Sie drehen also einerseits die Schraube der wissenschaftlichen, mathematischen Beherrschung des Materials weiter. Andererseits versuchen Sie gleichzeitig, geistigemotionale Tiefenschichten wieder anzusprechen, die uns in der Moderne verloren gegangen sind. Sie gehen in zwei Richtungen ins Extrem.

So ist es.

 

Anders als Giacinto Scelsi: Der ging nur in die eine Richtung und wollte die Musik so weit wie möglich von der rationalen Kontrolle befreien.

Das sehe ich nicht so. Er stammte natürlich aus einer anderen Generation. Scelsi ging eben noch nicht so in die Details,was die Tonhöhen angeht.Das hat sich ja dann erst in den 1970er, 80er Jahren entwickelt – nicht zuletzt durch die französischen Spektralisten um Gérard Grisey.

 

Das betrifft den historischen Ort von Scelsi. Aber er hatte ja auch eine ganz andere Arbeitsweise als Sie: Er hat sich geweigert, seine Kompositionen selbst niederzuschreiben. Scelsi hat aus dem Augenblick heraus improvisiert und dann die schriftliche Fixierung einem Mitarbeiter überlassen. Jede Verschriftlichung bedeutet ja eine Rationalisierung, eine Kontrolle und damit eine Entfremdung gegenüber dem schöpferischen Augenblick. Das wollte Scelsi ausklammern.

Ja, aber er hat sich immer sehr genau angesehen,was die betreffenden Assistenten da geschrieben haben.Er hat denen das keineswegs einfach überlassen. Allerdings habe ich seine Arbeitsweise nie ganz begriffen.Ich habe ihn ja sehr gut gekannt,und das bereits zu einem Zeitpunkt,als sich in Deutschland und erst recht in Italien fast niemand für seine Musik interessiert hat. Kennen gelernt haben wir uns Anfang der 1960er Jahre während meines Studienaufenthalts in der Villa Massimo in Rom. Ich denke, er wollte diese beiden Arbeitsgänge, Inspiration und Niederschrift, voneinander trennen. Letzten Endes stand dahinter die Idee,dass jede schriftliche Aufzeichnung von Musik immer schon eine Interpretation ist. Jedes Zeichen, jede Note interpretiert eine Intuition. Denn ursprünglich ist alle Kunst intuitiv. Diese Arbeit der Interpretation hat Scelsi einem Mitarbeiter überlassen, aber er hat sie zugleich sehr genau überwacht.Sein Vorgehen war also keineswegs irrational. Allerdings ist das sicherlich ein Sonderfall innerhalb der Neuen Musik.Und von meiner persönlichen Arbeitsweise ist das natürlich, da gebe ich Ihnen sofort recht,um Lichtjahre entfernt.

 

Wie erleben Sie selbst die Spannung zwischen Einfall und schriftlicher Fixierung? Und in welchen Situationen erleben Sie dieses seltsame Phänomen der Inspiration?

Das kann man nicht erforschen. Das sind Geschenke, die man in den unterschiedlichsten Lebenssituationen empfängt. Spazieren gehen ist immer gut. Und sicherlich kann man es nicht einfach so am Schreibtisch abrufen.Was am Schreibtisch passiert, ist ein Umdenken.Man muss für die empfangenen Impulse,die aus dem Unbewussten irgendwie aufsteigen,Bewusstseinsarbeit leisten, Zeichen entwickeln. Dabei kommt einem immer wieder diese Riesendifferenz der Zeitempfindung in die Quere. Während ich schreibe, fixiere ich Abläufe gewissermaßen in Zeitlupe, die ich erst später wieder in »realtime« erlebe, nämlich wenn ich als Interpret auf dem Podium stehe. Beim Dirigieren übersetzt man die Musik zurück in die lebendige Lebens zeit, in der man sie im Augenblick der Inspiration zur Verfügung hatte.Am Schreibtisch wird dagegen die fließende, lebendige Zeit der Musik zerstückelt. Der Interpret macht das wieder flüssig.

 

Schreiben Sie am Klavier?

Ja,die Kontrolle am Klavier ist für mich sehr wichtig,aber das hilft mir natürlich nichts,wenn ich mikrotonal schreibe.Dafür habe ich mir ein sehr komplexes Instrument gebaut, das zwei Synthesizer durch einen Ringmodulator miteinander verbindet.Damit kann ich jeden der mikrotonalen Klänge, die ich notiere, ganz genau prüfen.Gleichzeitig kontrolliere ich dabei auch die Fähigkeit meines eigenen Ohres,diese feinen Differenzen wirklich zu hören. Das muss physisch präsent werden,das Ohr muss sich an diesen Klängen reiben und sie,an den richtigen Stellen,auch genießen.

 

Sie sind Komponist und Dirigent. Wie vertragen sich diese beiden Rollen?

Glücklicherweise habe ich heute die Freiheit, mir immer wieder ein paar Monate von allen Dirigieraufgaben frei zu halten.Auf der andern Seite freue ich mich dann auch wieder aufs Dirigieren, weil mich diese Arbeit sehr lockert.Was ich nicht missen möchte, ist der faszinierende Moment auf dem Podium, wo die Musik neu zu entstehen scheint. Ich erlebe das heute mit einem noch größeren Bewusstsein als früher,wo man viel mehr mit technischen oder organisatorischen Dingen beschäftigt war,die sich heute fast von selbst erledigen. Beim Komponieren ist das anders. Da kann man nicht eine Technik oder einen Stil beherrschen und dann einfach nur weiter ausbauen. Stattdessen muss man sich bei jedem Stück von neuem über die Grundlagen des eigenen Tuns klar werden. Das ist ein aufreibender Prozess, bei dem es keine Routine gibt.

 

Komponierende Dirigenten bekommen ja gelegentlich den Begriff »Kapellmeistermusik « zu hören. Man kann das ja auch als Kompliment verstehen…

Ich halte es für eine höchst problematische Entwicklung des 20. Jahrhunderts, dass die Komponisten heute nur noch von Fall zu Fall auch als Interpreten auftreten. In früheren Jahrhunderten war das selbstverständlich! Ich habe das auch immer zu meinen Studenten gesagt: Es ist sehr wichtig, dass jeder Komponist ein Instrument konzertreif beherrscht und auch auf dem Podium spielt, damit er überhaupt merkt, was das ist, wenn Musik auf der Bühne pas s ier t . Die Gefahr beim Komponieren heute scheint mir,dass am Schreibtisch abstrakt simuliert wird. Beim Schreiben muss man immer die Erfahrungen des Live-Prozesses vor Augen haben.Und deshalb brauche ich als Komponist diese aktive, aktuelle Erfahrung des Musik-Machens, die ich beim Dirigieren habe.

 

Programmheft musica viva (03. März 2006)